Rohe Weihnachten

Rohe Weihnachten 

13. Dezember 2020

Kolumne von Robert Fietzke

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann…

…stehen Polizisten vor deiner Tür, und wenn die fünfte Kerze brennt, dann bist du in einem fremden Land, das du nicht kennst, dessen Sprache du nicht sprichst, getrennt von deinen Kindern und deinem Mann. Abschiebung.

Viele haben diese Woche Anteil genommen am Drama rund um die Magdeburger Familie, die bei einer brutalen Abschiebung nach Armenien zerrissen worden ist. Bei der Abschiebung flohen die beiden älteren Kinder (12 und 13) in Panik vor den Abschiebebehörden, die sie zwar kurz suchten, dann aber weiter machten mit ihrem Werk, als wäre nichts passiert, als wäre es kein existenzielles Problem, dass hier definitiv eine Familie getrennt wird. Statt den Abschiebeversuch in diesem Moment abzubrechen, zogen die Beamt*innen es durch – und zogen dabei auch eine Schusswaffe, um sie auf die empörten, wütenden, aber friedlichen Familienmitglieder, Freund*innen und Nachbar*innen zu richten, die sich eingefunden hatten, um die Familie zu unterstützen. „Die Eltern müssen sich von den Kindern verabschieden! Die Eltern müssen sich von den Kindern verabschieden!“ rief zum Beispiel eine ältere Frau. Eine absolut kriminelle Forderung, der selbstverständlich nur durch den Einsatz einer Schusswaffe begegnet werden kann.

Die Mutter (33) kam 1998 als Zehnjährige mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Deutschland. Heute ist sie vierfache Mutter. Alle vier Kinder sind in Magdeburg geboren, leben hier, lebten hier schon immer, gehen zur Schule, machen Quatsch mit ihren Freund*innen, machen das, was Kinder eben machen, wenn sie lebendig sind. Milena ist zwei Tage vor der Abschiebung sieben geworden. Die halbe Geburtstagstorte stand noch auf dem Tisch. Sie leben hier. In Magdeburg. Das ist dem Rechtsstaat aber egal. In Deutschland, da herrscht ius sanguinis, das „Blutsrecht“, das Abstammungsrecht. Das ius sanguinis ist viel älter als der Nationalsozialismus, aber die „Nürnberger Rasse-Gesetze“ haben den völkischen Implikationen dieses Abstammungsprinzips eine ungleich mächtigere Grundlage gegeben. Trotz einiger Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts hat sich auch das post-nationalsozialistische Deutschland vom Wesensprinzip des ius sanguinis nie verabschiedet.

Die Kinder hatten keine Chance. Magdeburg ist ihre Stadt. Egal. Was hier zählt, ist ihre „Blutslinie“. Dass es genauso rot ist wie bei allen Menschen, spielt für den Gesetzgeber keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, dass sie kein Wort armenisch sprechen. Es interessiert die Schreibtischtäter*innen hinter ihren Schreibtischen schlichtweg nicht. Recht und Gesetz. Duldung. Vollziehbare Ausreisepflichtigkeit. Im Ausführen kalten Verwaltungshandeln waren die Deutschen schon immer besonders gründlich. Dass dabei mehrere übergeordnete Rechtsgrundsätze geschleift werden, Artikel 1 des Grundgesetzes, der Grundsatz des Schutzes der Familie, das Kindeswohl, der Jugendschutz, spielt das eigentlich noch irgendeine Rolle? Die Würde des Blutsdeutschen ist unantastbar.

Es braucht keinen Vergleich zur NS-Zeit, um das Abschiebesystem als das zu kritisieren, was es ist: Ein technokratisches Regime, das den konkreten Einzelfall und die konkreten Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Menschen konsequent ignoriert, als handle es sich dabei nicht um menschliche Wesen. Es ist entmenschlichend, weil die betroffenen Menschen zu Abschiebezielerfüllungsquoten für die Profilierung von Innenministern degradiert werden. Seht her, ich bin Abschiebekönig, schaut hin, ich halte den Abschieberekord, wählt mich und ich verspreche euch Bestquoten beim Zerstören von menschlichen Existenzen.

Natürlich würden die Verantwortungsträger*innen in Politik und Verwaltung solche Sätze niemals in dieser Offenheit und Deutlichkeit sagen. Sowieso ist man schon auch betroffen. Manchmal. Ein bisschen. Aber da könne man nichts tun. Recht und Gesetz. Außerdem braucht es eine „nationale Kraftanstrengung bei Abschiebungen“ hat Frau Merkel Anfang 2017 gesagt. Da müssen eben alle mit anpacken, beim Traumatisieren von Kindern, beim Trennen von Familien, beim Abschieben demenzkranker 80-Jähriger. Verantwortung für all das Leid will am Ende aber niemand übernehmen, weder die Polizei, die nur Amtshilfe leiste, noch die Ausländerbehörde, die nur Entscheidungen auf Grundlage der Entscheidungen des BAMF ausführe, das BAMF schon gar nicht, das nur Vorgaben des Gesetzgebers ausführe und auch der Gesetzgeber ist nie Schuld, denn Gesetze fallen vom Himmel. Irgendwie.

Was die Verantwortungsträger*innen aber, obwohl sie freilich nie Verantwortung tragen, trotzdem nicht so gerne sehen, ist, wenn jemand hinschaut. Nicht ohne Grund werden die meisten Abschiebungen in der Dunkelheit durchgezogen, nicht selten mitten in der Nacht, wenn die Angehörigen, die Freund*innen, die Nachbar*innen noch schlafen. Videos aus Fenstern von gefesselten Müttern, weinenden Kindern und schreienden Babys, das wissen selbst die Horsts, Joachims und Holgers, dass sich das dann doch schlechter verkaufen lässt als nackte Zahlen.

Es ist aber wichtig, sich gegen diese entmenschlichende Praxis zur Wehr zu setzen. Es ist wichtig, dass Pilot*innen und Flugbegleiter*innen aufstehen und verweigern, schutzlose Menschen in Krisen- und Kriegs-Gebiete auszufliegen. Es ist wichtig, dass ganze Schulkassen geschlossen zusammenstehen, um ihre Klassenkamerad*innen vor dem Zugriff der Behörden zu schützen. Es ist unabdingbar, genau hinzuschauen, wenn die Nachbarsfamilie von Vermummten abgeholt und aus dem Leben gerissen wird. Denn: Die allermeisten der Betroffenen haben schon lange nicht mehr den Schutz von Recht und Gesetz auf ihrer Seite, denn Recht und Gesetz sind natürlich Ergebnis politischen Willens und schon gar nicht gefeit davor, zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt zu werden, also brauchen sie umso mehr den Schutz ihrer Mitmenschen. Das ist gelebte Solidarität und Nachbarschaftlichkeit. Und das ist im Übrigen das aktive Verteidigen dessen, was die Grundlage des übergeordneten Rechts darstellt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Foto: Robert Fietzke

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