06. November 2020
Kolumne von Dax Werner
Ich fühle mich wirklich sehr müde. Zuerst habe ich gedacht, das kommt daher, dass ich die letzten beiden Nächte viel zu lange wach war, um die Präsidentschaftswahlen in den USA zu verfolgen. Zwei lange Nächte mit mehreren Livestreams von CNN, FOX und wechselnden deutschen Sendern gleichzeitig, in einem weiteren Tab Twitter, dann noch Telegram und zwischendurch stundenlange Zoom-Calls, um gemeinsam dem CNN-Zahlenmann zu lauschen: Key Race Alert in Pennsylvania, 30.000 neue Stimmen sind gerade reingekommen, 59 Prozent ausgezählt. “Was heißt das denn jetzt konkret?”, egal, in Wayne County, Michigan, gibt es schon wieder Neuigkeiten, könnte knapp werden alles. Ist es wirklich so knapp? Wann äußert sich Biden? Was mache ich hier eigentlich? Wann twittert Trump? “Hast du das Meme schon gesehen?”. „Mist, schon 2 Uhr, ich muss in 5 Stunden raus. Den nächsten Poll Close nehme ich noch mit, aber dann bin ich raus, Leute”, undsoweiter, undsoweiter. Es gab in diesen zwei Nächten Momente, in denen ich mir sicher war, mich gerade so zu fühlen, wie sich ein einmal um den Globus geschicktes Datenpaket fühlt, wenn es durch die sterilen Glasfaserkabel am Internetknotenpunkt Frankfurt gespült wird. Man spürt nichts mehr, man ist nur noch eins mit dem Internet.
So wie es gerade ausschaut, wird jetzt der Kandidat US-Präsident, dessen überzeugendstes Argument darin besteht, einfach nicht Donald Trump zu sein. Um ehrlich zu sein, weiß ich weiter wirklich nichts über diesen Joe Biden, außer, dass Donald Trump ihn im Wahlkampf sehr oft “Sleepy Joe” genannt hat. Das hat mich irgendwie beschäftigt, denn so sehr man Trump für alles verachten muss, was er tut und sagt: Dieser Spitzname ist schon ziemlich lustig.
Im Internet, dem eigentlichen Wohnzimmer in Zeiten der Kontaktbeschränkung, wurde aus “Sleepy Joe” schnell der “schläfrige Joe” und nachdem der SPIEGEL-Journalist Markus Feldenkirchen twitterte, dass seine Autokorrektur “Joe Biden” vorsichtshalber in “Jörg Biden” korrigiert, war ein neues Meme geboren: Der schläfrige Jörg aus Delaware, Vize-Präsident unter Barack Obama und sehr wahrscheinlich der 46. Präsident der Vereinigten Staaten.
Im Diktum vom “schläfrigen Jörg” finde ich mich – und viele andere da draußen – auf vielfältige Weise wieder. Denn schläfrig fühle ich mich auch schon länger und die semantische Bewegung vom aufregenden “Joe” hin zum im besten Fall soliden “Jörg” veranschaulicht einem auch nochmal eindringlich und gnadenlos die eigene Mittelmäßigkeit.
Die im Meme zur Schau gestellte Müdigkeit hat jedoch gewiss nicht nur mit dem Lange-wach-Bleiben und Auf-ein-Ergebnis-warten zu tun, sondern auch mit der Müdigkeit darüber, dass wir im US-Wahlfieber jede andere Krise der Welt aus dem Blick verlieren: Der schläfrige Jörg surft auf die Nachrichtenseite seines Vertrauens und scrollt sich meterweise durch Artikel, die ausschließlich mit den #Elections2020 zu tun haben. Vielleicht denkt sich Jörg sogar: “Als ob gerade nichts anderes auf der Welt passiert, tz tz…”, nur um Momente später mal wieder in einen kurzen, traumlosen Schlaf zu fallen.
Die andere Müdigkeit, die in dem Bild mitschwingt, ist etwas komplexer: Es ist eine Müdigkeit, gegen die man eigentlich mit allem, was man hat, ankämpfen möchte, gegen die man sich jedoch nicht immer und zu jeder Zeit wehren kann. Vielleicht ist es sogar mehr Ohnmacht als Müdigkeit, jedenfalls meine ich das Gefühl, dass man von alledem, was gerade passiert, übermannt wird und an die Kapazitätsgrenzen dessen stößt, womit man sich noch so den Tag über beschäftigen kann. Viele verbinden dieses Gefühl stark mit dem Jahr 2020. Wenn man ehrlich ist, ist es schon länger da.
Zum Beispiel: Das Gefühl des Überwältigtseins angesichts einer globalen Pandemie. Die Scham darüber, wie wir uns als Europa gegenüber Flüchtenden verhalten, wie zum Beispiel in Moria, aber auch an vielen anderen Orten. Naturkatastrophen wie zuletzt das Erdbeben in Izmir, Terroranschläge wie in Wien. Es gibt – in kürzer werdenden Abständen – Momente, in denen man zu erschöpft sich, sich alledem in angemessener Weise zu widmen. Ich hoffe, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, aber vielleicht hat das Meme auf einer plötzlich sehr ernsten Ebene sehr viel mehr mit unserer Zeit zu tun, als wir glauben. Ich denke, also bin ich, aber ich bin auch so müde.
Auch auf die Gefahr hin, diese Kolumne sehr cheesy zu beenden: Manchmal ist es ok, müde zu sein. Das ist zwar mit Sicherheit nicht die Message, die Joe Biden uns eigentlich mit auf den Weg geben wollte, aber es ist die Message, die bei mir ankommt. Und das ist doch wenigstens etwas.
Foto: Susi Bumms