Extreme Gefühle

Extreme Gefühle

03. September 2020

Kolumne von Dax Werner

Ich habe wirklich lange nach diesem Zitat gegoogelt, aber ich hab’s nicht mehr gefunden: Harald Schmidt hat vor einigen Jahren mal sinngemäß in einem Interview erklärt, dass es egal sei, ob die Kriminalität im Land nun nachweisbar sinkt, steigt oder auf gleichem Niveau bleibt; sobald sich die Bevölkerung aus welchen Gründen auch immer nicht mehr sicher fühle, dann sei das eben die gefühlte Realität, zu der sich “Politik” eben verhalten müsse.

Dieser merkwürdige Interviewausschnitt ist mir wieder eingefallen, weil die Schere zwischen Fakten und Fiktion nicht erst seit gestern, jedoch gerade in letzten Wochen und Monaten exponentiell anzusteigen scheint. Zumindest gefühlt. So zum Beispiel – auch wenn inzwischen schon eine Menge dazu geschrieben wurde – bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik, zu denen sich am Wochenende über 30.000 Menschen in Berlin getroffen haben. Was die Empörung über die Festung Europa nicht schafft, schaffen ein paar Wochen Kurzarbeit und die Mund-Nasen-Maske. Auch wenn die Existenzangst und persönliche wirtschaftliche Ungewissheit einiger TeilnehmerInnen nachvollziehbar ist: Dafür gemeinsam mit ReichsbürgerInnen, Rechten und Rechtsextremen in Berlin zu demonstrieren ist es nicht. Wer sich einige von den hunderten Videos der Demo ansieht, fragt sich unwillkürlich: Wie kann das sein, dass Menschen gemeinsam mit ihren Kindern an einer Veranstaltung teilnehmen, von der von vornherein klar war, dass auch das rechtsextreme Spektrum auflaufen würde? Wie blendet man das aus und fährt fröhlich in die Hauptstadt?

Eine Voraussetzung: Man gehört schon einmal nicht zum primären Feindbild von Rechtsextremen. Auf Twitter gab es über das gesamte Demo-Wochenende Berichte von Betroffenen aus Berlin, die aus Angst vor Übergriffen das Wochenende über ihre Wohnungen nicht verließen oder auch nur das Umsteigen am Berliner Hauptbahnhof vermieden. Auch wenn viele bürgerliche und konservative MeinungsmacherInnen nicht schnell genug twittern konnten, dass sich die Corona-Demo ja schon gar nicht ausschließlich und auch nicht in der Hauptsache aus Rechtsextremen zusammensetze – ganz so, als würden sich Nazis immer noch ausschließlich über Glatze und Springerstiefel zu erkennen geben –, sollten diese Berichte beunruhigen. Und noch mehr deswegen, weil sich eben ein Teil der Bevölkerung nicht sicher fühlen kann, der – im Sinne des eingangs erwähnten Zitats von Harald Schmidt – mit der “gefühlten Sicherheit” nie mitgemeint ist: Die gefühlte Sicherheit ist in erster Linie die Sicherheit von Menschen, die nicht migrantisch wahrgenommen werden.

Ein anderer wichtiger Faktor könnte die Sprachlosigkeit im Kreis der Corona-Maßnahmen-Gegner sein. Schon hinter der eigentlich banalen Unterscheidung zwischen dem linken und rechten Spektrum wittern viele Demonstranten eine perfide “divide et impera”-Agenda des deep state, wahlweise forciert durch die “Mainstreammedien” oder das “Merkel-Regime” oder Bill Gates, vielleicht auch von allen zusammen. Wer aber nassforsch weder “links oder rechts” noch “Farben”, sondern in erster Linie “Menschen” sehen mag, mit denen es sich “ins Gespräch zu kommen” lohnt, findet sich dann doch vergleichsweise schnell neben Reichsbürgern wieder, die gewiss mit anderen thematischen Schwerpunkten im Gepäck nach Berlin angereist sind als man selbst. Auch hier ersetzen starke Gefühle Urteilskraft mit unschönem Ende.

Die Querdenken-Bewegung stellt den TeilnehmerInnen ein widersprüchliches Wohlfühl-Kit zur Verfügung, das mögliche Bedenken darüber, mit wem man sich hier eigentlich gerade solidarisiert, im Keim erstickt. So erklärt Heiko Schrang, einer der wichtigsten Vertreter der Szene, auf der Bühne: “Ich glaube an das Gesetz von Karma: Ursache und Wirkung. Und irgendwann müssen auch diese Leute sich verantworten dafür […] Der Tag wird kommen, dass diese Gesellschaft verändert wird, in eine Gesellschaft die für Freiheit und Liebe steht.” Dem Gefühl, sich in einer sehr komplex empfundenen Welt nur noch schwer orientieren zu können, setzen die Wortführer Orientierung durch radikale Gefühle entgegen: Karma, Liebe, Freiheit, Umsturz, Revolution. Ein anderer Redner, Samuel Eckert, erinnert in seiner Performance schon fast an einen harmlosen YouTube-Motivationstrainer und kreist um Begriffe wie “Mut”, “Ziele” und “Erfolg”. Allein: Das Ziel, das er meint, ist kein persönliches, sondern die “Abdankung des Merkel-Regimes” und – ein paar Tage später auf YouTube – eine verfassungsgebende Versammlung der Querdenker.

Auch wir, die wir uns dem linken Spektrum zuordnen, entwickeln starke Gefühle zum Thema. Gesellschaftspolitische Großlagen sind immer auch schon die Stunde der MahnerInnen und WarnerInnen. Wie unübersichtlich diese Lage jedoch ist, zeigte sich auch daran, dass es Mahnungen gab, die Zusammensetzung gerade nicht als “bunt” zu bezeichnen, weil Rechtsextreme dadurch den Diskurs nach rechts verschieben könnten. Gleichzeitig ging die entgegengesetzte Mahnung viral, die Demo nicht zur reinen Nazi-Demo zu erklären, weil “Nazis und AfD davon träumen, endlich mal selbst so viele Menschen auf die Straße zu bringen.” Was denn nun?

Und dann gibt es auch noch die, die dazu auffordern, den Querdenkern durch unsere Tweets und Memes nicht noch zu mehr Reichweite zu verhelfen, das Thema also “nicht größer machen als es eigentlich ist”. Mein Gefühl sagt mir: Das Thema ist schon ziemlich groß. Und Gags und Memes für die eigene Blase, die vermutlich sowieso denselben Blick wie ich darauf hat, sind aus meiner Sicht nicht nur vertretbar, sondern fürs Erste auch ein ganz guter Weg, mit diesem Wahnsinn irgendwie umzugehen. Ich vermute jedoch, dass sich dieses Problem nicht ausschließlich im digitalen Raum lösen lassen wird. Aber auch das ist natürlich wieder nur so ein Gefühl.

Foto: Susi Bumms

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