03. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Wir sind in der Peripherie Kabuls. In einer Seitenstraße wartet Mohammed* (Name geändert) und winkt uns hastig durch die Tür. Kalter Schneeregen fällt an diesem Nachmittag auf die Stadt. Mohammed führt uns durch einen vernachlässigten Hof in das Haus. Wir setzen uns in ein durch einen Holzofen beheiztes Zimmer. Doch bevor der 33-Jährige seine Geschichte zu erzählen beginnt, muss er die Tränen unterdrücken. Er lehnt sich nach vorne, legt seine Stirn auf den Holztisch und holt tief Luft. Sekunden vergehen, die sich wie Minuten anfühlen. Stille. Das Haus, in dem wir sitzen, ist nicht seins. Wäre er noch in seinem eigenen, wäre er wahrscheinlich tot. Mohammed wird, wie seine gesamte Familie, von den Taliban gesucht. Nur wenige Tagen nach der Machtübernahme am 15. August klopfen sie zum ersten Mal an der Tür. Keiner der Familie macht einen Mucks, dicht kauern sie sich aneinander. Irgendwann verschwinden die Kämpfer wieder. Seine Frau muss sich übergeben.
Mohammed hebt den Kopf wieder vom Tisch und beginnt zu erzählen. Knapp zehn Jahre war er Kameramann für diverse Medien, unter anderem für Tolo TV, dem größten unabhängigen Sender des Landes und über die vergangenen Jahre immer wieder Angriffsziel der Taliban. Das Handwerk hat er von Deutschen gelernt, erzählt er. Von einem Günther das Filmen; Lichttechnik und Produktion von einem Willy. Sein Bruder war lange für die deutsche Botschaft tätig. Als die Islamisten die Kontrolle über die Hauptstadt erlangen, wird Mohammeds Bruder von der Bundeswehr evakuiert. Sie nehmen nur ihn, seine Frau und Kinder mit. Dass die ganze Familie in Gefahr ist, findet seitens der Bundesregierung wenig Anklang. Mohammeds beiden anderen Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, wollen es trotzdem rausschaffen. Doch um am Flughafen Kabul nur die kleinste Chance auf Evakuierung zu haben, brauchen sie gültige Reisedokumente. Sie besitzen jedoch nur einen alten afghanischen Personalausweis. Deshalb nehmen sie den gefährlichen Weg auf sich, um neue Dokumente zu beantragen. Es ist das letzte Mal, dass Mohammed von ihnen hört.
Nach vier Tagen Funkstille und verzweifelter Suche meldet sich der Vorsteher des Bezirks Shakardara. Seine Schwester hat man erschossen aufgefunden. Sein Bruder wurde enthauptet. Obwohl es keine Zeugen gab, sind sich Mohammed und seine Familie sicher: Es waren die Taliban. „Zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits die absolute Kontrolle”, sagt Mohammed. „Wer sonst würde die beiden auf offener Straße so brutal ermorden?” Ihr Leben ist seitdem von Angst bestimmt. Seine Stimme zittert, als er sagt: „Wir wollen die Hilfe von Deutschland. Wir brauchen die Hilfe von Deutschland!” An dieser Stelle muss Mohammed seine Stirn wieder auf den Tisch legen. Stille. In vollkommener Panik, so Mohammed, ist die Familie darauf in den Norden geflohen, nach Mazar-e-Scharif. Sieben Tage haben sie dort versucht, über die Grenze nach Usbekistan zu kommen – erfolglos. Danach sind sie nach Jalalabad, an die Grenze zu Pakistan. Nach sieben erfolglosen Tagen dort sind sie nach Kabul zurückgekehrt, wo sie, wenn niemand hilft, wohl der sichere Tod erwartet.
Seit Monaten wechselt Mohammed alle paar Tage mit seiner Frau und den drei Kindern, darunter Zwillinge, den Wohnort. Nur so konnten sie bislang überleben. Doch auch an ihrer derzeitigen Tür kann es jederzeit klopfen. Mohammed und seiner Familie rennt die Zeit davon. Zwei seiner Geschwister ist die Zeit bereits abgelaufen. Wenn ihnen niemand hilft, so ist sich Mohammed sicher, gibt es nicht wirklich Hoffnung. Bevor wir das Haus verlassen, legt er noch mal den Kopf auf den Tisch. In absoluter Stille teilen wir diesen Moment der Angst und Trauer. „Danke, dass ihr gekommen seid”, sind seine letzten Worte.