Der Fluglotse

Als Jamal kurz vor dem Abitur steht und wie so viele andere in seinem Alter völlig überfordert von der Frage ist, was er mit seinem Leben anfangen soll
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Der Fluglotse

Der Fluglotse

17. Januar 2022

Die Zurückgelassenen

Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.

Teil 8: Der Fluglotse

Als Jamal kurz vor dem Abitur steht und wie so viele andere in seinem Alter völlig überfordert von der Frage ist, was er mit seinem Leben anfangen soll, kommt ihm eines Abends beim Fernsehschauen die Antwort auf diese oft lästige Frage. Eine Ausbildung zum Fluglotsen sei sehr attraktiv, so sagt die Stimme im Fernsehen, 50 US-Dollar im Monat würde man während der Ausbildung erhalten. Nach erfolgreichem Abschluss viel mehr. Alles, was man für die Aufnahmeprüfung bräuchte: ein Schulabschluss und gute Englischkenntnisse. „Englisch? kann ich”, so beschreibt der heute 30-Jährige seine. Zusammen mit ein paar aus der Clique, ihre Lebensläufe in der Hand, sind sie dann zur Uni gelaufen. Dort habe ein Deutscher namens Gerhard Rose ihre Papiere eingesammelt. Laut Jamal war die deutsch-staatliche Entwicklungsorganisation GIZ für das Ausbildungsprogramm als Air Traffic Controller (ATC) verantwortlich.

Er und seine Freunde bestehen den Aufnahmetest. Doch der Weg zum Fluglotsen ist lang: Die Ausbildung dauerte insgesamt über drei Jahre mit Stationen in Indien und Bangladesch, weil es in Afghanistan keine Simulatoren gibt, um die verpflichtenden Trainingsstunden zu absolvieren. Nach erfolgreichem Abschluss werden sie fortan von der Regierung angestellt, bekommen jedoch nur ein Monatsgehalt von 100 US-Dollar im Monat. Sie beschweren sich und durch Unterstützungen „der Deutschen” wird ihr Gehalt auf 700 US-Dollar im Monat erhöht. Nur zum Vergleich: In Deutschland liegt das Einstiegsgehalt bei etwas über 7000 Euro brutto.

Doch Jamal ist trotzdem zufrieden und beschreibt die darauffolgenden Jahre ziemlich positiv. Trotz des andauernden Kriegs. Als im Februar 2020 jedoch das Friedensabkommen zwischen den USA und den Taliban in Qatar getroffen wurde, überkommt ihn ein mulmiges Gefühl. Im darauffolgenden Jahr nimmt er wahr, wie der Verkehr am Flughafen zunimmt, wie immer mehr Transportmaschinen leer ankommen und voll wieder abfliegen. Das genaue Datum weiß er nicht mehr, aber ist das zweite Mal, dass er und seine Kollegen aufgrund des grassierenden Coronavirus in Quarantäne am Flughafen ausharren müssen. Gemeinsam wenden sich er und seine Kollegen an ihre Vorgesetzten – laut Jamal allesamt deutsche Staatsbürger. „Ihr habt euch jahrelang auf uns verlassen können. Ihr müsst uns doch jetzt irgendwie helfen”, sagt er. Sie wimmeln ab, sagen ihnen, es gäbe nichts, das sie tun können. „Gebt uns wenigstens ein Papier, irgendetwas, das uns die Tür öffnet, damit wir es an anderer Stelle probieren können”, fordert Jamal von ihnen. Doch es passiert: nichts.

In der Nacht, als die Stadt Mazar-e Scharif am 13. August in die Hände der Taliban fällt, ist er alleine mit einem Kollegen im Tower. Die Taliban seien von den Bergen herabgestiegen. „Es war Apokalypse. Man hat die Schüsse gesehen, die Leuchtstreifen”, erinnert sich Jamal, als die radikalislamische Gruppe das Feuer auf den Flughafen eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt sei der Flughafen noch in vollem Betrieb gewesen. Zivilmaschinen, Militärmaschinen, Helikopter. Ihn und seinen Kollegen packt die Todesangst. Der erste Funkspruch sei eher moralischer Natur gewesen, erzählt er. „Wir helfen euch doch, wir helfen euch seit Jahren, wie könnt ihr einfach gehen?”, habe er als Erstes ins Mikrofon gesagt. Mit jedem abfliegenden Flugzeug sei die Angst aber gestiegen. Als nur noch ein paar Flugzeuge auf Abflug warten, brüllt er: „Nimmt uns mit! Fliegt nicht ab! Wartet! Wir kommen!” Er und sein Kollege verlassen den Tower und rennen auf die nächstgelegene Maschine zu.

Doch immer wieder, wenn die Taliban das Feuer eröffnet, müssen sie sich auf den Boden werfen, ausharren, bis keine Kugeln mehr fliegen. Dann weiter rennen. „Der Pilot hat die Geduld verloren”, erzählt Jamal. Das letzte Flugzeug hebt ab, er ist nur etwa 100 Meter entfernt. Sie entkommen, indem sie das Liefertor aufbrechen, durch das sonst die Tanklaster auf das Flughafengelände fahren.

Jamals Geschichte zeigt, wie dramatisch, wie überhastet, wie chaotisch und vor allem wie ungerecht die Evakuierung der sogenannten Ortskräfte durch die internationalen Streitkräfte gelaufen ist. Jahrelang hat Jamal für die Sicherheit der Luftfahrt gesorgt. Und während die Taliban ihn beschossen haben, er auf dem Boden lag und um sein Leben zitterte, hoben die letzten Maschinen vom Flughafen ab, die ihn zurückgelassen haben.

Übrigens: Seit dem Fall Mazars sitzt niemand mehr im Kontrolltower. Es gäbe weder das Personal noch überhaupt die nötige Technik. „Die Deutschen”, so erzählt Jamal, „haben für über fünf Millionen Euro ein neues System installiert.” Die Instandhaltung dessen würde über die Jahre noch mal das sechsfache Kosten, so der Fluglotse. Doch das Geld sei für die Katz, das System kaputt. Die Geschichte ist wirklich parabelhaft für die letzten 20 Jahre, die verfehlten Bemühungen des Westens und den überhasteten Abzug. Doch in Afghanistan geht das Leben weiter, wenn auch noch gefährlicher als davor. Trotz fehlender Fluglotsen steuern jeden Tag Passagiermaschinen der afghanischen Airlines den Flughafen an. Die Piloten fliegen einfach auf Sicht. Die Passagiere werden darüber nicht informiert, dass ihr Pilot im tiefsten Winter probiert, per Augenmaß die Landebahn zu treffen.

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