07.Juli 2020
Kolumne von Michael Bittner
Fünf Jahre erst ist’s her, da nahm Deutschland gemeinsam mit wenigen anderen europäischen Staaten Menschen aus dem Nahen Osten auf, die vor Bürgerkrieg, Verfolgung oder perspektivlosem Elend geflüchtet waren. Und doch scheint der rasch zur „Flüchtlingskrise“ umdeklarierte Akt der Humanität schon fast vergessen. Dabei sollte er doch eigentlich Auftakt zum Untergang des Abendlandes sein! Man hat sich abgefunden, nimmt den Geflüchteten aber doch ein bisschen übel, dass man sich ihretwegen für ein Weilchen zum Mitgefühl hinreißen ließ. Die Mehrheit der Deutschen hat inzwischen sogar Angela Merkel ihren Anflug von Menschlichkeit verziehen, allerdings nur, weil die Regierung längst zur gewöhnlichen Politik der Abschottung zurückgekehrt ist.
In einen Satz gerinnt die Mischung aus Resignation, Gleichgültigkeit und Widerwillen, mit der hierzulande viele mittlerweile Richtung Mittelmeer blicken: „Wir können nicht allen helfen!“ Es ist ein unscheinbarer Satz, der aber doch ziemlich viel Inhalt hat: vier Lügen in nur fünf Wörtern. Noch die mildeste Schwindelei steckt im letzten. Wir „helfen“ eigentlich gerne, das klingt rührend. Da vergisst es sich leicht, dass es nicht um Akte einer freiwilligen Gnade geht, sondern um die internationale Flüchtlingskonvention, das Verfassungsrecht auf Asyl und die Pflicht zur Rettung Schiffbrüchiger. Wo man aber nicht das tut, was das Recht gebietet, sondern aus Lust und Laune „hilft“, da kann bei passender Gelegenheit auch die Frage gestellt werden: Oder soll man es lassen?
Von beachtlicher Verschlagenheit ist auch das Wörtchen „alle“. Können wir die Not auf der Welt beenden, indem wir „alle“ aufnehmen? Nein. Es kommen aber auch nicht „alle“. Es kommen einige. Blickt man auf den vielerorts erbärmlichen Zustand unseres Planeten, dann verwundert es nicht, wie viele, sondern wie wenige Menschen sich auf der Flucht befinden. Offenbar muss die Verzweiflung sehr groß sein, bevor Menschen sich dazu entschließen, trotz ungewisser Aussichten ihre Heimat für immer zu verlassen. Aber die Vorstellung, Menschen zögen aus Leichtsinn in die Ferne, setzten sich unterwegs zum Spaß Lebensgefahren aus, passt eben besser als Begründung für geschlossene Grenzen.
Die dritte Lüge braucht zwei Worte: „können nicht“. Es wäre schon viel gewonnen, wenigstens für die Ehrlichkeit in der Debatte um Migration, wenn man sich allgemein entschlösse, die Wahrheit auszusprechen: Wir wollen nicht. Wir könnten, aber wir wollen nicht. Wir wollen in unserer Wohlstandswelt vom Elend in der Ferne nicht belästigt werden, besonders dann, wenn es Menschen betrifft, die dunkle Haut oder eine verdächtige Religion haben. Wären die Leute wenigstens weiß und vorm Kommunismus geflüchtet! Dann geht vieles, das haben wir in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen. Aber so? Können wir leider nicht.
Die unscheinbarste und doch widerwärtigste Lüge des Satzes steckt aber schon im ersten Wort. Wer ist eigentlich dieses „Wir“? Wer darf bestimmen, wer „wir“ sind? Sind es „wir“ Deutschen, die „wir“ das unverdiente Glück haben, schon durch den Zufall unserer Geburt zum legalen Aufenthalt im Land berechtigt zu sein? Und „wir“ sollen deswegen zusammenhalten? Ich bin verpflichtet, mich zur nationalen Solidargemeinschaft zu bekennen? In Eintracht mit den Volksgenossen Björn Höcke, Clemens Tönnies und Uwe Tellkamp? Während ich Geflüchtete unbesehen als „Fremde“, womöglich gar als Feinde zu begreifen habe? Auf die freche Zumutung eines solchen „Wir“ kann glücklicherweise jede und jeder getrost antworten: Ohne mich.
Foto: Amac Garbe