26. Oktober 2022
Audio zum Interview
Die Situation in Afghanistan sei verheerend – so beschrieb Anna-Lena Uzman, Mitarbeiterin von Mission Lifeline, die Situation der afghanischen Ortskräfte in einem Interview vor drei Monaten. Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden die ehemaligen Angestellten der deutschen Bundeswehr und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Afghanistan zurückgelassen. Der Großteil von ihnen wartet bis heute auf eine Aufnahmezusage für Deutschland. Wie ist die Situation der Ortskräfte heute? Axel Steier beschreibt die aktuelle Lage, die Lücken im neuen Bundesprogramm für gefährdete Afghan:innen und mit welchen Mitteln die Bundesregierung weiterhin versucht, die Verantwortung für die Ortskräfte von sich zu weisen.
Axel, wir wollen heute über das Thema Afghanistan sprechen, insbesondere über die Situation der ehemaligen Ortskräfte. Darüber hatte ich bereits Mitte Juli mit Anna-Lena Uzman gesprochen, die bei euch für die Betreuung der Ortskräfte zuständig ist. Sie beschrieb die Situation der Menschen damals als verheerend. Wie schätzt du die Situation heute ein?
Die Situation ist noch verheerender geworden. Die Weltöffentlichkeit schaut weg und die Taliban haben verboten, dass ausländische Medien ohne Weiteres aus Afghanistan berichten können. Inzwischen werden die Verfolgten auch tatsächlich gefunden und in größerer Anzahl umgebracht. Es kommt immer häufiger vor, dass sich Ortskräfte nicht mehr bei uns melden. Zudem geht vielen das Geld aus und sichere Verstecke werden immer weniger. Folter und Mord stehen an der Tagesordnung.
Wie viele der Ortskräften, die ihr betreut, harren gerade noch in Afghanistan aus?
Wir haben zu etwa 1500 Ortskräften in Afghanistan Kontakt. Insgesamt sind es ca. 35.000 Ortskräfte plus ihre Familien, die noch keine Aufnahmezusage für Deutschland haben.
Du sagtest, es sind schon einige ermordet worden. Hast du dazu Zahlen?
Von unseren Menschen sind es weniger als ein Dutzend, bei denen wir fest davon ausgehen können, dass sie ermordet wurden. Konkrete Zahlen haben wir nicht, weil sich die Menschen, die ermordet wurden, eben einfach nicht mehr melden. Wenn der Kontakt abreißt, können wir zwar davon ausgehen, dass etwas passiert ist, wissen aber nicht genau was.
Ich habe kürzlich bei der Tagesschau gelesen, dass die Bundesregierung eingeräumt hat, dass mehr als 30 afghanische Ortskräfte mittlerweile tot seien. In dem Zusammenhang wurde auch recht präzise dargestellt, was die Todesursache gewesen sei: 15 Menschen seien eines natürlichen Todes oder bei einem Unfall gestorben, neun gewaltsam ermordet, ein Suizid usw. (1). Das klingt für mich sehr nach einer Rechtfertigung seitens der Bundesregierung. Wie schätzt du diese Zahlen ein – sind sie realistisch?
Das können gar keine realistischen Zahlen sein. Die Bundesregierung hat praktisch überhaupt keine Kenntnis davon, denn sie antwortet den Ortskräften ja nicht auf ihre Anfragen. Eingereichte Anträge bleiben monatelang unbearbeitet und in den Ministerien ist kaum Personal für das Ortskräfteverfahren vorhanden, sodass man davon ausgehen kann, dass diese Angaben im besten Fall geschönte Zahlen sind. Das Problem ist, dass den wenigsten, die sich bei der Bundesregierung melden, geholfen wird. Den meisten – und auch das ist im Hinblick auf die Zahlen interessant – wird vermittelt, sie seien ja vielleicht gefährdet, aber sie müssen auch nachweisen, dass sie aufgrund ihrer ehemaligen Tätigkeit für die Bundesregierung gefährdet sind. Wenn also jemand umgebracht wurde, dann wird letztendlich behauptet, es sei ja nicht bewiesen, dass der Mord im Zusammenhang mit der Tätigkeit stand. Das ist ein Trick, um die Verantwortung von sich zu weisen. Zudem wird jegliche Gefährdung der Ortskräfte geleugnet.
Warum hat die Bundesregierung nicht das erbracht, was versprochen wurde – nämlich, dass sie die Ortskräfte rechtzeitig aus Afghanistan rausholt? Was ist das Hauptproblem?
Die größte Hürde ist, dass die Menschen gar keine Antwort bekommen. Und wenn sie eine Antwort bekommen, dann sind es Absagen mit der Begründung, dass keine Gefährdung vorliege, die über das allgemeine Maß in Afghanistan hinausginge und diese auch nicht mit der Arbeit verbunden sei. Es ist eine komplette Ignoranz und die kommt daher, dass unsere Regierung einfach nicht will, dass Afghan:innen nach Deutschland kommen.
Du machst über soziale Medien deutlich auf diese Missstände aufmerksam und auch auf das Fehlverhalten der Regierung und einzelner Politiker:innen. Hast du das Gefühl, dass ihr als Verein dadurch Druck ausüben könnt und ihr Rückmeldungen bekommt?
Ich denke, das kommt schon an und es erzeugt auch einen gewissen Druck. Ansonsten würden Politiker:innen ja nicht immer mal wieder behaupten, es werde alles dafür getan, die Menschen zu retten. Fakt ist aber, dass die Aufnahmezusagen nicht in den entsprechenden Maßstäben gegeben werden. Von daher muss man sagen: ja, sie reagieren zwar mit einem gewissen Framing und der Behauptung, die Menschen seien ihnen nicht egal – aber die Wirklichkeit ist dann eben eine andere. Die Bundestagsabgeordneten, vor allem von den Regierungsparteien, sind im Grunde eine große Enttäuschung.
Gibt es deiner Meinung nach hauptverantwortliche Personen, die reagieren müssten? Oder kann man das gar nicht auf einzelne Individuen herunterbrechen?
Doch, das kann man ganz konkret sagen. Das sind die Parlamentarier der Regierungsfraktionen, die dem Kurs der Regierung folgen. Eine konkret verantwortliche Person ist beispielsweise Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze, die derzeit für die Ortskräfte der GIZ zuständig ist. Sie ist verantwortlich für den Tod von Menschen und die Parlamentarier, die das durchgehen lassen, sind natürlich mitverantwortlich. Denn diese sind nicht gezwungen für Ampelprojekte zu stimmen. Mit einer Blockade dieser Projekte könnte man die Regierung durchaus dazu bringen, anders zu handeln. Aber ich denke mal, dass denen ihre Karriere wichtiger ist als Menschenleben.
Am 17. Oktober wurde das neue Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan:innen veröffentlicht. Dieses soll bis zu 1000 gefährdeten Menschen pro Monat eine Aufnahme garantieren, wobei sich das Programm an afghanische Staatsangehörige richtet, die sich „durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben (…) oder die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung (…) gefährdet sind.”(2) Was sagst du zu diesem Programm?
Dieses Programm bedeutet ein Maximum von 12.000 Menschen pro Jahr. Das ist natürlich ein Witz dagegen, wieviel Ortskräfte die Bundesregierung verrecken lässt. Es ist einfach ein Trostpflaster für die deutsche Öffentlichkeit und die Leute, die glauben, die Grünen seien eine Menschenrechtspartei. Das ist das Eine. Das Nächste ist, dass selbst diejenigen, die eine Aufnahmezusage bekommen, deswegen noch lange nicht in Deutschland ankommen, da Deutschland eine Passpflicht in der pakistanischen Botschaft eingeführt hat. Früher konnten Afghan:innen mit einer Aufnahmezusage den normalen afghanischen Personalausweis nutzen, um ein Visum für Deutschland bekommen. Mittlerweile ist ein Pass notwendig und der ist teuer und schwer zu bekommen. Außerdem werden nur Menschen berücksichtigt, die sich noch in Afghanistan befinden. Das heißt, diejenigen, die bereits in die Nachbarländer geflohen sind, stecken dort fest. Das trifft vor allem Journalist:innen, die nach Pakistan, in den Iran oder die Türkei geflohen sind und dort von einer Abschiebung bedroht sind. Des Weiteren bedeutet dieses Programm, dass im Gegenzug natürlich Ortskräfte zurückgelassen werden. Wenn man bedenkt, dass 35.000 Ortskräfte noch keine Aufnahmezusage erhalten haben und ein Jahr lang jetzt erstmal 12.000 generell gefährdete Menschen aufgenommen werden sollen, bedeutet das natürlich, dass da wieder gespart wird. 35.000 gegen 12.000 – wenn es überhaupt so viele werden. Das Programm hat noch ein paar weitere Nachteile. Beispielsweise können sich Betroffene nicht direkt dafür bewerben, sondern sie müssen eine Non-Profit-Organisation (NGO) finden, die das für sie macht. Zudem ist der Prozess aufwendig und kostet Zeit: pro Fall bzw. pro Familie, muss mit einem Tag Zeitaufwand gerechnet werden. Da kann man sich ausrechnen, wie viele Mitarbeiter:innen NGOs haben müssten, um alle Daten eingeben zu können. Am Ende hängt das eben davon ab, wieviel die Zivilgesellschaft spendet.
Und das Programm beinhaltet weiterhin keine Option auf Visa on Arrival, damit gefährdete Afghan:innen erstmal ohne Visa einreisen könnten?
Nein, das ist weiterhin keine Option. Dagegen gibt es wahrscheinlich große Widerstände. Auch eine elektronische Visa-Ausstellung findet nicht statt. Die Menschen müssen tatsächlich persönlich die Flucht aus Afghanistan schaffen. Sie müssen sich Pässe besorgen, was pro Person zwischen 1200 und 1400 Dollar kostet und sie müssen sich Visa für die Nachbarländer beschaffen, was auch wieder erhebliche Summen kostet. Pro Person entstehen Kosten von ungefähr 2000 Euro für die Flucht. Das können sich die wenigsten leisten.
Wie geht es den zurückgelassenen Ortskräften im Land?
Es ist eine psychische Extrembelastung für die Menschen. Die Ortskräfte haben für die Deutschen gearbeitet und es gibt ein Ortskräfteverfahren, für das sie jedoch nicht berücksichtigt werden und sie sind jeden Tag in Lebensgefahr. Die Menschen gehen kaputt daran. Sie werden vor unseren Augen ausgelöscht. Psychisch und auch physisch, weil sie kein Geld mehr für Essen haben. Man merkt richtig, wie sie vor unseren Augen verzweifeln und jegliche Hoffnung verlieren. Das ist, als würde man jemandem zuschauen, der langsam stirbt und wir können nichts tun. Und dabei könnte man etwas tun! Unsere Mitarbeiter:innen sind zwar ziemlich stark und versuchen wirklich alles, um die Menschen irgendwie rauszukriegen. Aber Fakt ist einfach, wir gucken Menschen beim Sterben zu.
Was müsste sich deiner Meinung nach ändern?
Die Ortskräfte müssten alle sofort Aufnahmezusagen bekommen und Deutschland müsste direkt über einen Freikauf der Menschen verhandeln. Den Taliban 1000 Euro pro Kopf bieten, damit sie im Gegenzug die Leute rauslassen. Aber das ist eher eine unrealistische Erwartungshaltung. Deutschland will die Menschen nicht hier haben und deswegen passiert auch nichts. Denn wenn man die Ortskräfte oder auch andere gefährdete Afghan:innen retten will, dann kann man das einfach machen.
Warum will Deutschland das nicht?
Ich habe die Befürchtung, dass unsere Politiker:innen mit einem Auge immer auf die Wahl gucken und sich denken, wenn zu viele Afghan:innen reingeholt werden, könnte das Probleme für die nächste Wahl bedeuten. Ich denke, das ist der Hintergrund. Und natürlich insgesamt eine rassistische Einstellung in den Ministerien.
Nun frage ich mich, wie das weiter geht. Wie lange wird es noch dauern, bis die Ortskräfte tatsächlich die Hilfe bekommen, die sie auch verdient haben?
Wir werden die eine oder andere Ortskraft noch retten können. Und da arbeiten wir als Verein auch hart dran, denn jedes Menschenleben zählt. Aber ich denke, dass der Großteil von den Menschen, die noch keine Aufnahmezusage bekommen haben, früher oder später sterben werden. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, bei dem man die eine oder andere Person retten kann. Aber der Großteil an Ortskräften wird tatsächlich von der Politik geopfert.
Ist das Kalkül seitens der Politik?
Die wissen ja wie die Situation ist. Sie beschönigen sie zwar immer, aber tatsächlich wissen sie um die Situation dieser Menschen. Anders wäre ein Bundesaufnahmeprogramm ja auch nicht zu rechtfertigen. Deswegen sehe ich das eiskalt. Mir kann niemand erzählen, dass jemand, der oder die Minister:in wird, nicht ein gewisses Maß an Arschloch in sich tragen muss. Auch Parlamentarier scheinen fähig zu sein etwas zu sagen, aber das Gegenteil zu tun. In meinen Augen – und so wie sich das in den konkreten Fällen darstellt – ist Politik ein Schauspiel. Für mich sind das alles Verbrecher und für die Demokratie ist das nichts Gutes, wenn die Leute, die in verantwortlichen Positionen sitzen, so verbrecherisch handeln. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wer einmal in so einer Position sitzt, muss schon ganz schön mit dem Gewissen abgeschlossen haben. Anders kann ich mir das nicht erklären, wie diese Leute agieren.
Wie geht ihr jetzt weiter vor? Was sind die nächsten Schritte von Mission Lifeline?
Wir planen noch juristische Aktivitäten, um den Ortskräften zu helfen, die Ablehnungsschreiben bekommen. Natürlich werden wir auch weiterhin mit den Menschen in Kontakt bleiben und wir machen auch privat viel für sie. Wir geben privat Geld an Personen, die wir kennengelernt haben und soweit wir das können, aber das ist natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Als Verein betreiben wir zudem weiterhin unsere Safe Houses. Wir haben in Afghanistan verschiedene Häuser, wo wir Leute verstecken können. Das machen wir weiter, solange es nötig ist und wir die Mittel dafür haben. Pro Familie kostet das etwa 700 Euro pro Monat. Da gehören auch Medikamente, Krankenhausbehandlung und solche Sachen dazu. Wir tun, was möglich ist, aber unsere Mittel sind sehr begrenzt. Wir haben sehr wenig Geld dafür, da die Spendenbereiche für Afghanistan leider nicht sehr ausgeprägt sind. Das Thema kommt einfach nicht mehr ausreichend in den Medien vor.
Was können Menschen tun, um die afghanischen Ortskräfte zu unterstützen? Spenden?
Ja, spenden ist definitiv super wichtig, weil das tatsächlich Leben rettet. Wichtig ist es auch, die sozialen Medien zu bedienen – retweeten, liken und was es eben so gibt. Und selbst Politiker:innen anzuschreiben.
Axel, möchtest du abschließend noch etwas hinzuzufügen, was dir besonders wichtig ist?
Vor allen Dingen, dass es total wichtig ist, laut zu bleiben und die Stimme zu erheben. Das kann jede:r machen, beispielsweise indem dieser Beitrag geteilt wird oder auch andere Beiträge von Mission Lifeline geteilt werden. Wir müssen laut bleiben, damit Politiker:innen die Situation in Afghanistan nicht mehr auf Dauer weglächeln können.
Das Gespräch führte Kathi Happel
Quellen:
1. https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan/ortskraefte-105.html
2. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2022/10/bap-afghanistan.html
Foto: Markus Weinberg