Mitarbeiterin Von Mission Lifeline Anna-Lena Uzman

„Ich weiß nicht, wie lange sie das noch schaffen können.“

„Ich weiß nicht, wie lange sie das noch schaffen können.“

19. Juni 2022

Im Gespräch mit Anna-Lena Uzman über die Situation der Ortskräfte in Afghanistan

Audio zum Interview

Es ist mittlerweile fast ein ganzes Jahr her. Mitte August 2021 nahmen die Taliban Kabul ein und übernahmen die Macht über Afghanistan. Deutsche Truppen hatten bereits zuvor das Land verlassen. Zahlreiche afghanische Ortskräfte jedoch, die jahrelang für die deutsche Bundeswehr oder die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet hatten, wurden zurückgelassen − viele von ihnen bis heute. Für die Taliban gelten sie als Verräter und werden seitdem verfolgt. Während sich Deutschland offenbar der Verantwortung gegenüber ihren ehemaligen Mitarbeiter:innen entzieht, versucht Anna-Lena Uzman, Mitarbeiterin von Mission Lifeline, den Ortskräften in Afghanistan zu helfen.

Anna-Lena, du betreust afghanische Ortskräfte, die von unserer Bundesregierung im Stich gelassen wurden. Wie würdest du derzeit die Situation in Afghanistan beschreiben?

Die Situation in Afghanistan ist verheerend, das ist sie seit August letzten Jahres. Man muss allerdings sagen, dass sie sich aus zwei Gründen kontinuierlich verschlechtert. Zum einen, weil die Taliban ihre Macht konsolidieren. Durchsuchungen nach Menschen, die für die frühere Regierung und mit ausländischen Behörden zusammengearbeitet haben, finden sehr forciert und großflächig statt. Wir bekommen beispielsweise zunehmend Informationen über Massaker in hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten. Oder in Hinblick auf die ehemaligen Ortskräfte des Police Cooperation Projects der GIZ, die sogenannten PCP. Diese Leute haben Polizisten lesen und schreiben beigebracht und werden von den Taliban aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der Polizei und einer ausländischen Organisation als Spione betrachtet − und dementsprechend gejagt. Hinzu kommt, dass unsere Ortkräfte größtenteils inzwischen fast ein Jahr auf der Flucht sind. Das heißt elf Monate ohne Einkommen oder in denen sie ihre Kinder nicht mehr gesehen haben. Viele Ortskräfte und ihre Kinder hungern und medizinische Versorgung kann schon lange nicht mehr gezahlt werden. Langsam wissen sie auch nicht mehr, wohin sie noch fliehen sollen. Es wird zunehmend enger für die Menschen und ich weiß nicht, wie lange sie das noch schaffen können.

„Die Menschen sind auch mental am Ende.“

Die PCP haben sich beim Ortskräfteverfahren der GIZ bereits im August letzten Jahres gemeldet, die meisten von ihnen jedoch bis heute keine Antwort erhalten. Einige haben einen Datenerfassungsformular oder eine automatische Antwort bekommen − ansonsten nichts. Derzeit wird über ein Formular abgefragt, in welcher Gefährdung sich die Menschen befinden. Allerdings ist dieses Formular ausschließlich auf Englisch. Viele der Ortskräfte verstehen aber kein Englisch – und schon gar kein bürokratisches Englisch. Es ist abzusehen, dass sie bereits an der Sprachbarriere scheitern werden.

Das klingt ja, als wäre das Absicht. Wie siehst du das, entzieht sich Deutschland und die GIZ der Verantwortung gegenüber den Ortskräften?

Ja, Deutschland entzieht sich massiv der Verantwortung. Es wird jede Hürde genutzt, jeder Stein in den Weg gelegt. Zudem schweigt die Bundesregierung mittlerweile einen Großteil der Ortskräfte einfach tot. Annalena Baerbock spricht nur noch von den Ortskräften mit Aufnahmezusage. Wir haben aber etliche 100 Ortskräfte, die noch gar keine Zusage erhalten haben. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) leugnet nach wie vor jegliche Gefährdung seiner ehemaligen Mitarbeiter:innen. Und was die GIZ angeht: die GIZ hat die Verträge ihrer Ortskräfte. Die PCP beispielsweise mussten ein mehrstufiges Sicherheitsverfahren durchlaufen und sind sogar biometrisch erfasst, was für sie jetzt hochgradig gefährlich ist.
Nun müssen die Ortskräfte individuell ihre Gefährdung nachweisen − und zwar bei einem Ministerium, das per se ihre Gefährdung leugnet. Dabei sind diese Menschen gefährdet, dafür gibt es genug Belege. Es handelt sich um Menschen mit Taliban-Haftbefehlen, um Menschen, gegen die Übergriffe erfolgt sind. Trotzdem wurden sie abgelehnt. Sie fragen mich: „Wann haben die Deutschen genug Beweise, dafür, dass wir gefährdet sind? Ihnen reicht doch nur, wenn sie ein Foto von meiner Leiche haben.“

Nun versuchst du zu helfen, wo Deutschland nicht helfen möchte. Wie treten die Ortskräfte mit dir in Kontakt? Ich kann mir vorstellen, dass das gar nicht so einfach ist und sie auf der Flucht wahrscheinlich nicht immer eine Internetverbindung oder Strom haben…

Sie haben oft kein Internet und oft keinen Strom. Natürlich lebe ich auch damit, dass öfter mal Menschen von mir verschwinden und ich nicht weiß, ob sie wieder auftauchen. Es ist auch eine Sicherheitsfrage. Während der heftigen Durchsuchungen in Kabul im Februar, haben wir den Leuten erklärt, wie sie ihre Telefone und Laptops möglichst sicher machen und säubern können. Wie sie ihre Dokumente online bei uns sichern, damit sie nichts mehr auf ihren Geräten haben, was sie belasten könnte. Trotzdem ist es wichtig, dass sie nicht alles verbrennen, wie es viele in ihrer Panik getan haben. Das ist später problematisch, weil Deutschland ja der Meinung ist, dass Menschen, die seit Monaten auf der Flucht sind, trotzdem alle Unterlagen in Papierform einreichen können.

Über welche Plattformen kontaktieren die Ortskräfte dich?

Grundsätzlich kontaktieren sie mich auf Twitter, das ist die erste Anlaufstelle. Die Ortskräfte haben sich aber auch oft in Gruppen organisiert und sind vernetzt. Über Kontaktleute kann ich Informationen mit diesen Gruppen austauschen. Ansonsten läuft die Kommunikation auch über E-Mail und jeden Messenger – und das 24/7. Ich versuche ihnen beizubringen Signal zu benutzten, weil das sicherer ist.

Das heißt, du checkst täglich deine Nachrichten und schaust was es Neues gibt. Welche Unterstützung kannst du den Ortskräften im weiteren Verlauf bieten?

In vielerlei Hinsicht unterstützen wir auf Sachebene. Beispielsweise bei Formularen oder wenn es darum geht Anwälte zu beantragen und zu finanzieren. Aber die Menschen brauchen auch mentale Betreuung. Nach elf Monaten ohne Antworten und in Hoffnungslosigkeit ist es wichtig, dass diese Menschen wissen, dass zumindest wir sie nicht vergessen. Dass da jemand ist, der ihre Stimme hört. 

Gibt es denn auch schon kleine Erfolgsgeschichten?

Ja, glücklicherweise gibt es die. Das ist das, was in der ganzen Verzweiflung aufrecht hält. Wir konnten bereits viele Ortskräfte nach Deutschland holen und sind auch mit ihnen in Kontakt. Ein großer Lichtblick für mich ist die Geschichte einer meiner ersten Ortskräfte. Er war damals am Kabuler Flughafen, in diesen unsäglichen Menschenmassen, mit einem kleinen Deutschlandschild und wurde nicht rausgeholt. Als ich ihn persönlich kennenlernte, war die Verzweiflung groß und seine Familie – er hat zwei kleine Söhne – am Hungern. Die Kinder waren so wahnsinnig blass und dünn. Aber mit unserer Unterstützung konnten sie fliehen und befinden sich jetzt seit einigen Monaten in Deutschland. Ich bekomme Fotos, auf denen ich sehe, dass es den Kindern besser geht. Ich hoffe, es wird noch mehr solche Erfolgsgeschichten geben, allen Widerständen zum Trotz. Denn diese Menschen haben das Recht darauf. Sie haben für Deutschland gearbeitet.

Nun wird die Situation in Afghanistan auch vom Krieg in der Ukraine überschattet. Deutschland hat sehr viel Solidarität für die Ukrainer:innen gezeigt, was ja großartig ist. Aber es scheint, als gäbe es für die Afghan:innen diese Solidarität nicht. Wie ist das für dich und insbesondere für die Ortskräfte? Fühlen sie sich dadurch noch mehr im Stich gelassen?

Ja, das ist unglaublich traurig. Kurz nachdem der Krieg in der Ukraine anfing, ging auch die erste Serie dieser sehr brutalen Durchsuchungen der Taliban los, unter anderen mit Morden und Vergewaltigungen. Trotzdem sagten alle meine Ortskräfte, sie beten für die Ukrainer:innen. Sie nahmen sehr großen Anteil. Irgendwann merkten sie aber, dass sich für sie niemand interessiert. Sie fingen an mich zu fragen: „Was ist unsere Schuld? Sind wir nicht auch Menschen? Zählt unser Tod nicht − sind wir nichts wert?“
Das sehe ich auch. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie man zu Recht Hunderttausende Ukrainer:innen aufnehmen konnte − wie gesagt, völlig zu Recht − sich das Auswärtige Amt aber mit Zähnen und Klauen davor wehrt 2000 PCP aufzunehmen. Ich verstehe auch nicht, warum sich die Außenministerin einerseits großartig präsentiert, und erschüttert ist über die Bilder ukrainischer Kinder, aber kaum auf Afghanistan blickt. Ich bin ebenfalls erschüttert darüber was in der Ukraine passiert. Aber ich bin auch erschüttert über die Bilder afghanischer Kinder. Als es in Afghanistan die Bombenattentate auf die Schulen gab, auf die Hazara Kinder, hatten wir innerhalb von drei Tagen mehrere 100 tote Hazara Kinder! Natürlich sind Tote nie aufzurechnen. Jedes tote Kind ist ein totes Kind zu viel. Dennoch sieht es für mich so aus, als könne man sich mit der Hilfe für die Ukraine eben besser präsentieren. Unsere Afghan:innen hingegen sind offensichtlich, um jetzt mal ganz bitter zu sein, zu dunkel und zu anders. Das war ja der große Diskurs zu Beginn des Krieges. In vielen Medien hieß es: Die Ukrainer:innen sind wie wir. Offenbar sind die Afghan:innen nicht genug wie wir.

Wenn du nun auf fast ein Jahr Ortskräfte-Betreuung zurückblickst, welche Eindrücke sind dir besonders im Gedächtnis geblieben?

Ich glaube, was für mich das Einschneidendste war, ist die Fassungslosigkeit und Desillusionierung darüber, in welchem Ausmaß und mit welchem bürokratischem Aufwand unser Land diese Menschen nicht nur im Stich lässt, sondern abwehrt. Das Ausmaß dieser Schreibtischtäterei. Da sitzen Menschen an Schreibtischen und entscheiden auf Basis von anonymen und unmenschlichen Regeln über Leben und Tod. Das verletzt mich zutiefst. Und das Einzige, was ich entgegenhalten kann ist, dass wir den Menschen helfen und sie nicht allein lassen.

Was wünscht du dir für die Zukunft in dem Zusammenhang und welche Hoffnungen gibt es?

Wir brauchen die Reform des Ortskräfteverfahrens, die von den Grünen in der Opposition versprochen wurde. Denn so wie die Strukturen jetzt sind, gehen uns die Menschen unter. So sind auch wir limitiert, was unsere Hilfe angeht. Es kann nicht sein, dass wir nahezu jeden Fall mit einem Anwalt durchklagen müssen. Es gibt diverse Punkte, wo man nachjustieren könnte. Die PCP sind wie gesagt sicherheitsüberprüft. Warum kann man sie nicht erstmal in Sicherheit bringen? Warum gibt es kein Visa on Arrival? Und Hoffnungen… Ich glaube darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich denke nicht darüber nach. Ich denke zum Beispiel nicht darüber nach, dass meine Menschen umgebracht werden könnten, obwohl ich Angst davor habe. Ich glaube, es gibt keine Hoffnung. Es gibt Forderungen und es gibt Arbeit.

Das Gespräch führte Kathi Happel

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