Wer sind wir und wer sind die anderen?

Wer sind wir und wer sind die anderen?

24. September 2021

Kolumne von Karam Atrash

Nationalismus ist eine der schlimmsten Erfindungen der Menschheit. Man hat den Menschen irgendwann kleine Hefte in die Hand gedrückt und ihnen damit eine „Nationalität“ verliehen. Auf diesem Heft steht wer sie sind. Man weiß auch dadurch wer die „Anderen“ sind. Man nennt dieses Heft „Reisepass“. Heute ist dieses Heft so mächtig geworden, dass es über unser Schicksal entscheidet. Über unser Leben und unseren Tod.

Ich kam vor sechs Jahren als Geflüchteter aus Aleppo nach Deutschland. Schon damals träumte ich von dem Moment, in dem ich irgendwann ein solches Heft besitzen werde. Nationalität: Deutsch. Schon der Klang dieser Buchstaben erfüllt uns zweitklassige Menschen mit Macht und Freiheit. Mit meinem syrischen Heft musste ich nämlich während meiner Flucht immer unter dem Radar bleiben. Die Grenze war für mich ein Ort der Angst und Demütigung. Um dies zu ändern und in den Flieger nach Deutschland einsteigen zu dürfen, musste ich ein anderes Heft besitzen. Ich musste also meine Identität ändern und eine der privilegierten Identitäten besitzen, eine aus dem Westen. Es mag absurd klingen, aber du kannst heute tatsächlich die falsche Identität besitzen. Ob wir das wollen oder nicht: Wir leben in einer Welt, in der Menschen zwei Klassen zugeteilt werden. Würden diejenigen, die um ihr Leben übers Mittelmeer kämpfen eins der privilegierten Hefte aus dem reichen Westen besitzen, würden sie es erst gar nicht tun müssen. Jedoch besitzen sie Keines und deshalb wird über sie als „Zahlen“ in der Öffentlichkeit gesprochen, die es gestern oder vorgestern bis zum nächsten Hafen nicht geschafft haben. Diese Unterteilung der Menschen in zwei Klassen ist bereits ein bekanntes Phänomen geworden und wird in der Anthropologie als „Biopolitik“ bezeichnet. Sie bezeichnet die verschwiegene Unterteilung der Menschen der heutigen Weltpolitik auf der einen Seite in diejenigen, die auf ihre physische Existenz als Lebewesen reduziert werden, während die weißen WestlerInnen mit ihren erstklassigen Identitäten auf der anderen Seite viel mehr als nur als Lebewesen betrachtet und behandelt werden. Sie sind im Gegensatz zur ersten Gruppe nicht nur Menschen, sondern auch Bürgerinnen und Bürger und haben Rechte, die nicht nur symbolisch auf dem Papier stehen, sondern welche, aus denen sie Gebrauch machen könnten. Das ist also das System, in dem wir heute leben. Bei ihrem Versuch in diesem System zu überleben, müssen zweitklassige Menschen immer wieder ihr Leben aufs Spiel setzen.

Jedoch warum sollte der weiße Mann sie aus der gefährlichen Lage retten, in die sie sich freiwillig versetzen, indem sie sich auf die tödliche Reise begeben. Genau darum geht es nämlich: Was hat der weiße Mann damit zu tun?

Ich verwende den Satz „der weiße Mann“ nicht, weil ich mich gender-ungerecht auf ein einziges Geschlecht in meiner Rede beschränken möchte, sondern, weil die Taten, die zu den vielen Problemen führten, mit denen wir hier zu tun haben tatsächlich auf alte weiße Männer zurückzuführen sind. Vielleicht hätten es weiße Frauen besser gemacht. Man weiß ja nicht. Abgesehen von dem diskriminierenden und menschenverachtenden System, von dem ich bereits sprach, sollte man sich noch einer Frage widmen: Warum versuchen Menschen auf illegale Wege in den Norden zu kommen und riskieren dabei ihr Leben?

Wenn der Westen Waffen an Diktaturen im Nahen Osten liefert, sollte es die logische Konsequenz sein, dass sich irgendjemand auf die Flucht machen wird. Diese Story ist aber wahrscheinlich bereits ausgelutscht: Ja, Ja, wir haben es verstanden. Die böse Waffenindustrie ist schuld an dem Ganzen. Jedoch das Problem beschränkt sich nicht nur auf Waffenexporte. Es gibt auch Menschen, die sich auf den Weg in den Norden machen, obwohl sie von keinem Krieg bedroht werden. Wonach suchen sie also da oben?

Wenn du AnthropologInnen fragst, könnten sie dir ganze Bücher zu den Konsequenzen des Kolonialismus vorlesen. Der Kolonialherr hat dem Kolonialisierten schon längst eine Gehirnwäsche unterzogen. Der Letztere ist bis heute der festen Überzeugung, dass der Weg zur Zivilisation – und somit zu einer „besseren“ Welt – um den Besitz des IPhones nicht herumkommt. Der Grund liegt hunderte von Jahren zurück. Dabei gab der weiße Mann dem Kolonialisierten zu verstehen, dass er nur durch westliche Kleidung und eine westliche Lebensweise zu einem besseren Menschen werden kann. Heute tut der weiße Mann dies nicht mehr unbedingt. Jedoch die Idee, die seine Vorfahren einst in die Welt der Kolonialisierten getragen haben, lebt bis heute. Diese lautet: Das Wohlergehen ist durch materiellen Reichtum definiert, in dem man über möglichst viele westliche Produkte verfügt und diese konsumiert. Das anstrebenswerte Leben ist also dieses des weißen Mannes. Nicht nur seine Lebensweise, sondern alles, was er macht scheint anstrebenswert zu sein. Das ist dieselbe Idee, die uns in Werbungen weltweit gezeigt wird. Sogar nicht-westliche Konzerne haben bereits seit langer Zeit diese Idee in ihrer Werbung übernommen. Auch die Religion konnte absurderweise der Gehirnwäsche nicht entkommen. Die Bilder von Jesus, die in Mexiko an den Wänden hängen zeigen einen weißen Mann mit blonden Haaren. Heute herrscht also ein neuer Kolonialismus. Dieser des westlichen Kapitalismus. Der Neoliberalismus dringt immer mehr in die Weltpolitik ein. Indem auch staatliche Institutionen privatisiert werden und Kompetenzen des Staats an nicht-staatliche Akteure delegiert werden, rückt die Vertretung wirtschaftlicher Interessen bei politischen Entscheidungen immer mehr in den Vordergrund. Das beste Beispiel hierfür ist Frontex. Ein nicht-staatlicher Akteur, der die Aufgaben von Staaten bereits übernommen hat und in ihrem Namen handelt. In manchen Ländern wird sogar bereits diskutiert, inwiefern eine Privatisierung des Polizeisektors seine Leistungen optimieren könnte.

Noch dazu zeigen wirtschaftliche Beziehungen zwischen westlichen Ländern und diesen, die von ihnen einst kolonialisiert wurden, in keinem einzigen Fall eine Handelbeziehung auf Augenhöhe auf. Die alten Herrschaftsverhältnisse bestehen bis heute. Das Machtungleichgewicht wird heute jedoch meistens nicht mehr durch den Vorteil des Besitzes von Schießpulver hergestellt, sondern durch Technologie und Kapital. Ich behaupte trotzdem nicht, dass der Westen die Verelendung des Globalen Südens aktiv anstrebt. Jedoch eine Politik im Sinne des Neoliberalismus nutzt dieses Machtungleichgewicht für ihren maximalen Vorteil aus, sodass es immer einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Tatsache ist also, dass der Globale Süden sich von den Konsequenzen des Kolonialismus noch lange nicht erholt hat, und sich wahrscheinlich nicht erholen wird, solange die Politik des Westens keine Revolution durchläuft, die endlich vorhat die Fehler der Vorfahren einigermaßen wiedergutzumachen. Eine Politik, die sich in ihrer Perspektive hauptsächlich auf das eigene Land beschränkt, kann nicht die Politik der Zukunft sein. Die heutige Globalisierung hat die Welt kleiner als je gemacht, sodass alles zusammenhängt, mehr als wir es uns nur vorstellen können. Eine Politik im Sinne des Neoliberalismus ist heute von der Realität entfernt mehr als je, und wird uns über den kürzesten Weg in den Abgrund führen.

Solange der weiße Mann Bananen in allen Jahreszeiten essen möchte, sind Probleme in den Exportländern auch seine Probleme. Solange ein europäisches Unternehmen wie Nestlé afrikanisches Gewässer privatisiert, für sich beansprucht, in Plastikflaschen verpackt und in Europa verkauft, ist die Dürre in Afrika und die daraus resultierende Fluchtbewegung auch das Problem der EuropäerInnen bzw. durch sie verursacht. Und sobald Menschen im Wasser um ihr Leben ringen, weil sie den Preis für all das zahlen und wir immer noch darüber diskutieren, ob es die richtige Entscheidung wäre sie zu retten, werden wir bereits eins der wichtigsten Dinge verloren haben, die uns Menschen ausmacht: Unsere Menschlichkeit!

Quellen:
Agamben, Giorgio. (2002). Homer sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. (1. Aufl., Bd. 16). Suhrkamp Verlag
Dolderer, Johannes, Christian Felber and Petra Teitscheid. (2021). “From Neoclassical Economics to Common Good Economics.” Sustainability 13, (2093): 1-20.
Engelke, Matthew. (2017). Think like an anthropologist.
Loader, Ian (1999). Consumer Culture and the Commodification of Policing and Security. Sociology 33 (2): 373-392.


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