Wenn Eltern-Kind-Entfremdung sinnvoll wird

Wenn Eltern-Kind-Entfremdung sinnvoll wird

27. September 2023

Von Matthias Meisner

Es ist ein Kampfbegriff der Väterrechtsbewegung: Eltern-Kind-Entfremdung. Und selbstredend fehlte er nicht, als der Verein Väteraufbruch für Kinder (VafK) vor ein paar Tagen einen großen Stand auf dem Stadtteilfest in Berlin-Moabit rund um die Turmstraße aufbauen durfte. Eine Hüpfburg der Väterrechtler lockte Jungs und Mädchen an. Funktionäre des Vereins – uniform in weißen Westen – verteilten derweil Propagandamaterial an die Eltern.

Die Flyer drehten sich fast ausschließlich um das eine Thema. „Überlebensstrategien bei Eltern-Kind-Entfremdung“ war einer überschrieben. In einem anderen hieß es: „Genug Tränen! Kinder brauchen beide Eltern!“ Und, zum Foto eines verheulten Buben: „Lenny fehlt sein Papa. Er will mit ihm kuscheln, basteln und spielen. Seit 127 Tagen verhindert seine Mutter aber den Kontakt.“ Der Verein gab Ratschläge zur „Früherkennung von Umgangsbehinderung/Umgangsboykott“. Das Buch eines vermeintlich „ausgegrenzten“ Vaters im Selbstverlag lag aus: „,Papa!‘ ,Papa!‘ ,Papa!‘ ,Papa!‘ ,Papa!‘ Der Kampf eines Vaters für seine Kinder“. In einer weiteren Schrift hieß es: „Ein entfremdetes Kind liebt beide Eltern. Doch es trägt die Liebe zum ausgegrenzten Elternteil tief in seinem Herzen und hütet es wie einen versteckten Schatz.“

Wie diese Lobbyarbeit der Väterrechtler funktioniert – und teilweise wirkt – haben jetzt das Recherchekollektiv Correctiv und das Magazin Stern in einer gemeinsamen Recherche beschrieben. Mit kruden Thesen und jeder Menge Frauenhass werde Einfluss in Politik und Justiz genommen, der Gewaltschutz von Frauen und Kindern untergraben, hieß es.

Auch Markus Witt kam vor, inzwischen im Landesverband Berlin-Brandenburg des Vereins Väteraufbruch aufgestiegen zum Vorsitzenden. Witt, damals noch Bundesvorstandsmitglied des VafK, bot demnach im Januar 2020 im Rathaus Berlin-Tiergarten – also am Ort, wo dreieinhalb Jahre später das Stadtteilfest Moabit stattfand – für seinen Verein einen Workshop an. Das Motto: „Wie man den Krieg gegen den anderen Elternteil am besten gewinnt.“

In der Correctiv-Recherche heißt es dazu: „Zwar wurde am Anfang ein Hinweis eingeblendet: Die beschriebenen Praktiken seien ,nicht zur Nachahmung empfohlen, sondern als Mahnung zu verstehen‘. Aber die einzelnen Punkte wirken auffällig konkret, es gab ,praktische Übungen‘ zu Punkten wie: ,Alles strittig stellen‘, später folgte die Folie: ,Vorwürfe, Vorwürfe, Vorwürfe‘, etwa: ,Macht alles falsch‘ oder ,Alkohol- und Drogenmissbrauch‘, flankiert mit dem beunruhigenden Hinweis: ,Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.‘ Was also war der Zweck des auffälligen Workshops? Der Referent Markus Witt weist den Eindruck zurück, dass die Hinweise als Ratschläge gemeint waren. Auf Anfrage von Correctiv und Stern teilt er mit, er habe eine ,Bestandsaufnahme‘ beabsichtigt: ,Der Arzt nennt es Anamnese, der Kriminalist das Lagebild.‘ Damit könnten Betroffene wie Fachkräfte derartige Praktiken erkennen, und wer sie praktiziere, könnte ,leichter dabei erwischt werden und hätte Konsequenzen zu befürchten‘. Damit meint er offenbar vor allem Frauen: Wie er weiter schreibt, gebe es ,Täterinnen‘, die ihre ,Taten unsichtbar machen‘ wollen und dafür den ,Gewaltbegriff instrumentalisieren‘.“

Auch der Verein Väteraufbruch schreckt nicht davor zurück, Gewalttäter zu beraten. Selbst dann, wenn es deutliche Hinweise gibt, dass ein Klient Ehefrau oder Partnerin geschlagen hat oder gegenüber dem eigenen Kind handgreiflich geworden ist, stehen die Türen des Vereins für den vermeintlich „stigmatisierten“ Elternteil offen. Um Täterarbeit und Prävention geht es dabei allerdings zuletzt. Konterkariert wird damit der sinnvolle Einsatz für die gemeinsame Kinderziehung getrenntlebender Eltern, die sich gut verstehen. Die dann allerdings meist auch nicht Jugendamt, Familiengericht oder einen Verein wie den Väteraufbruch benötigen, um einvernehmlich etwa das Wechselmodell zu praktizieren. Das von Vereinen wie dem Väteraufbruch vehement geforderte paritätische Wechselmodell eignet sich, wenn getrenntlebende Eltern harmonieren. Problematisch wird es bei Hochstrittigkeit. Untauglich ist es nach häuslicher Gewalt.

Doch die Lobbyarbeit trägt Früchte, wie die taz vor ein paar Tagen im Zusammenhang mit dem Plan von Justizminister Marco Buschmann (FDP) kommentierte, der die Unterhaltszahlungen von miterziehenden Vätern absenken will. Die taz schrieb: „Kinder brauchen für ihr gedeihliches Erwachsenwerden sich liebende Väter und Mütter. Wenn sie die nicht haben können, was passieren kann und passiert, dann brauchen sie stabile Strukturen und Orte, die sie stärken und schützen. Die finden sie in aller Regel bei den Müttern, in Einzelfällen auch bei den Vätern.“ Die Zeitung warnte davor, die Rolle der Mütter in der Gesellschaft „im monitären Gezerre der Männer um die Höhe des Unterhalts“ weiter zu schwächen.

Die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm beschrieb in einem Interview in der FAZ, wie gewalttätige Männer immer wieder Täter-Opfer-Umkehr betreiben. Von ihr ist gerade im Verlag Hanser Berlin das Buch „Gegen Frauenhass“ erschienen. Im Interview nennt sie ein Beispiel: „Der Täter gibt der Frau eine Ohrfeige, sie stürzt. Er sagt: ,Ach, bist Du schon wieder hingefallen, du Tollpatsch!‘ Macht er das öfter, beginnt sie ihm zu glauben – obwohl es genau umgekehrt ist.“ Clemm appelliert: „Redet über Täter! Redet darüber, wie sie vorgehen. Es ist ein erster Schritt, wenn Männer miteinander über Gewalt reden. Wir alle sollten uns trauen, besser hinzusehen.“

Ähnlich deutlich ist der Alarmruf von Anwaltskollegin Asha Hedayati, bei bei Rowohlt das Buch „Die Stille Gewalt – wie der Staat Frauen alleinlässt“ veröffentlicht hat. Sie schreibt: „Täter-Opfer-Umkehr ist eines der größten Probleme bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt, denn es hält die Betroffenen davon ab, sich Hilfe zu suchen, und gleichzeitig werden durch das Victimblaming Frauen alleingelassen, wenn sie es denn wagen, sich Hilfe zu suchen.“

Der eingangs erwähnte Begriff der Eltern-Kind-Entfremdung ist nach Ansicht der Expertengruppe Grevio, die sich mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention des Europarats befasst, unwissenschaftlich. Im Dezember 2022 schrieb Grevio, dass „alle einschlägigen Fachleute“ bei Entscheidungen über das Sorgerecht und das Besuchsrecht „die negativen Auswirkungen von Gewalt eines Elternteils gegen den anderen auf die Kinder gebührend berücksichtigen“ müssten und sich „der fehlenden wissenschaftlichen Grundlage für Begriffe wie der so genannten elterlichen Entfremdung“ bewusst sein sollten.

Was nicht heißt, dass eine Eltern-Kind-Entfremdung generell sinnlos ist. Sie ist es dann, wenn der Begriff als Vorhalt benutzt wird, um einen Elternteil – oft die Mutter – mit unbelegten Vorwürfen zu diskreditieren, so wie das Väterrechtler gern tun. Dann ist auch der Begriff fragwürdig. Sinnvoll wird die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil dann, wenn sich das Kind eigenverantwortlich dafür entscheidet, ohne Einfluss der Eltern. Weil es die vermeintliche Zuneigung eines Elternteils als „nicht echt“ erkennt. Und wenn ein Täter die ausgeübte Gewalt immer wieder leugnet und so das ursprünglich ihm vom Kind entgegengebrachte Vertrauen missbraucht. Die genetische Abstammung indes darf nicht für Machtkämpfe zu Lasten von Kindern instrumentalisiert werden.

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