04 Oktober 2020
Kolumne von Ruprecht Polenz
„Bothsideism“ nennt man die Tendenz, alle politischen Debatten so zu behandeln, als ob die gegnerischen Seiten gleich starke oder gleichermaßen gültige Argumente vorbrächten, oder als ob beide Seiten gleichermaßen gefährlich seien.
So fragte der „Spiegel“ seine Leser:innen in einer Umfrage: „Trump vs. Biden – wer hat Sie mehr überzeugt?“ Aber ist das wirklich die richtige Frage nach einer Debatte, in der Trump durch sein Auftreten und Reden alles tat, um die Demokratie und ihre Institutionen zu delegitimieren?
Viele Kommentatoren legten trotzdem herkömmliche Maßstäbe an: Wo hat Biden punkten können? Wo war er schwach? Wo war Trump stark? Wo hat er überzeugt, wo weniger? Und vor allem: Wem nützt die Debatte? Wer hat gewonnen?
Alle diese Fragen verfehlen den entscheidenden Punkt: es war gar keine Debatte.
Denn zu einer Debatte, zu Rede und Gegenrede gehören zwei, die sich auf das jeweils Gesagte beziehen. Nur so bekommen die Zuschauer:innen die Möglichkeit, sich tatsächlich ein Bild darüber zu machen, wie die Kandidaten die Lage der USA bewerten: Coronakrise, Wirtschaft, innere und äußere Sicherheit. Und vor allem, welche politischen Pläne sie haben, um die Probleme in der Zukunft besser zu lösen.
Trump hat sich diesem politischen Disput von Anfang an entzogen. Er hat keine Frage des überforderten Moderators beantwortet, nicht nur Biden sondern auch den Moderator ständig unterbrochen, aggressiv rumgepöbelt.
„That Wasn’t a Debate — It Was a Disgrace“ (Das war keine Debatte – es war eine Schande) überschreibt Umair Haque seine lesenswerte Analyse dieses denkwürdigen Abends. „Wir haben das hässliche, erstaunliche Schauspiel eines Präsidenten gesehen, der eine Debatte genutzt hat, um die Grundlagen der Demokratie anzugreifen – von der Wahl bis zur Abstimmung. Und der offen – offen – Gewalt, Brutalität, Einschüchterung und Autoritarismus zu fordern schien.“
Eine Debatte setzt auch voraus, dass man sich auf dieselbe Wirklichkeit bezieht. Aber wie soll man mit einem wie Trump diskutieren, der seine Argumente einfach erfindet und steif und fest behauptet: Der Himmel ist grün? Unser politisches System und seine Kommunikation ist nicht auf eine aggressive Totalfiktion eingestellt.
Diese aggressive Totalfiktion durchzieht die Präsidentschaft von Trump wie ein roter Faden, beginnend mit seiner Behauptung, noch nie seien so viel Menschen bei einer Amtseinführung dabei gewesen, wie bei seiner. In zunehmendem Tempo streut Trump Fake News, um eine „alternative Wirklichkeit“ zu erschaffen, in der seine Anhänger:innen immer mehr gefangen werden. Mitte Juli dieses Jahres waren es über 20.000 Unwahrheiten, die ihm die Washington Post nachweisen konnte.
Seit einiger Zeit sät Trump gezielt Zweifel, ob er eine Wahlniederlage gegen Joe Biden anerkennen würde. Das ist für eine Demokratie ein ungeheuerlicher Vorgang. Viele Kommentator:innen spielen deshalb alle möglichen Szenarien durch, was passieren könnte, wenn Trump sich weigern würde, seine Niederlage einzugestehen und die concession speach zu halten.
„Der schlimmste Fall ist jedoch nicht, dass Trump das Wahlergebnis ablehnt. Der schlimmste Fall ist, dass er seine Macht einsetzt, um ein entscheidendes Ergebnis gegen ihn zu verhindern“, schreibt Barton Gellmann in einem viel beachteten Artikel in The Atlantik.
Er zählt darin die Möglichkeiten auf, die das zwar traditionsreiche, aber auch komplizierte amerikanische Wahlrecht für solche Manipulationen bietet.
Trump und die Republikaner gehen davon aus, dass ihnen eine höhere Wahlbeteiligung tendenziell eher schadet. Deshalb versuchen sie, die Stimmabgabe per Brief z. B. durch eine gezielte Schwächung des US-Postal-Service zu erschweren. Denn in Corona-Zeiten tendieren viele Amerikaner dazu, ihre Stimme lieber per Brief abzugeben, als vor überfüllten Wahllokalen in der Schlange zu warten.
Wir alle bekommen mit, wie Trump systematisch und grundlos die Briefwahl einfach mit Fälschung gleichsetzt, damit er später bei jedem Wahlergebnis behaupten kann, es sei gefälscht.
Zwar sind die Wahlmänner, die in jedem Staat gewählt werden, gehalten, im Electoral College die Stimmen für den Kandidaten abzugeben, den das Volk mehrheitlich gewählt hat. Aber wenn in umstrittenen Staaten das Wahlergebnis vom dortigen Parlament in Zweifel gezogen wird, könnten sie die Weisung bekommen, sich anders zu verhalten.
Am Ende entscheidet der Supreme Court – dessen Zusammensetzung Trump gerade ändert. – Es bleibt also spannend in den USA, weit über den Wahltag hinaus. Die USA, vollständig mit sich selbst beschäftigt und in einen tiefen Verfassungskonflikt verstrickt – das wären auch für Deutschland und die Welt sehr schlechte Aussichten. Welches Kraut ist gegen Trumps aggressive Totalfiktion gewachsen? Die Hoffnungen richten sich auf die Tradition und die Institutionen der amerikanischen Demokratie.
PS: Nach Abgabe des Kommentars wurde die Corona-Erkrankung bekannt. Ich wünsche Donald Trump und seiner Frau Melanie, dass die Krankheit glimpflicher verläuft als bei den vielen Amerikaner:innen, die er durch seine chaotische Corona-Politik gefährdet hat und die schwer gelitten haben oder verstorben sind. Und den USA wünsche ich auch deshalb einen anderen Präsidenten.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP