16. März 2023
Von Matthias Meisner
Es waren Fake News, und das aus meiner Feder. Extrem ärgerlich. Vor ein paar Tagen berichtete ich in der taz über Sergej K., einen vermeintlich aus der russischen Provinz stammenden Mann, womöglich Fitnesstrainer, angeblich schwul, nach eigenen Angaben zwangsrekrutiert für die russischen Streitkräfte und abkommandiert in die Ukraine, den Behauptungen zufolge nun schwer verletzt in einem Kyjiwer Krankenhaus auf eine Operation hoffend. Bloß hatte ich das nicht so vorsichtig formuliert.
Die Geschichte erschien unter der Überschrift „Deserteur will Asyl in Deutschland“. Und so ziemlich alles an ihr war falsch.
Auf der Online-Seite der „taz“, wo der Artikel zu finden war, steht nun: „Der angebliche russische Kriegsverweigerer, über den wir an dieser Stelle berichtet haben, existiert nicht. Wir haben den Text gelöscht. Nach Hinweisen aus der taz-Kommune mussten wir feststellen, dass wir dabei einem Betrüger aufgesessen sind. Den schwulen Asylsuchenden gibt es nicht, vielmehr handelt es sich bei ihm wohl um die Erfindung eines Schwindlers. Wir bedanken uns für die Hinweise und bitten um Entschuldigung.“
Was war geschehen?
Eine Person hatte über eine Dating-Plattform 2020 Kontakt aufgenommen zu einem schwulen Verleger aus Niedersachsen. Sie nannte sich Sergej K., schrieb dutzende Mails in schmachtender Tonlage und in ziemlich perfektem Deutsch. Ob die Person schwul ist, wissen wir nicht. Ob sie aus Russland kommt, wissen wir nicht. Eigentlich wissen wir wenig. Aber der Verleger aus Niedersachsen hat alles geglaubt. Und danach haben es eine ganze Reihe anderer Menschen zumindest als stringent angesehen: die Stories vom schwierigen Leben als Schwuler in der russischen Provinz, vom Widerstreben für Putin zu kämpfen. Es bildete sich, rund um einen Buchhändler aus Bonn, ein kleines Unterstützungsnetzwerk für Sergej K. Es wurde Geld gesammelt für eine medizinische Evakuierung, es wurden hochrangige Diplomat:innen mobilisiert. Die Helfer:innen wollten das tragische Schicksal von Sergej K. abwenden. Und saßen einem Liebesbetrüger auf. Auch ich bin ihm, zugegeben, aufgesessen.
Auf der Internetseite familie.de steht zum Thema: „Love Scamming setzt sich aus den beiden englischen Wörtern ,Love‘ und ‚Scamming‘ zusammen und bedeutet ‚Liebesbetrug‘. Dem potenziellen Partner oder der Partnerin spielen beängstigend gut organisierte Betrüger dabei die große Liebe vor, obwohl die Absichten eigentlich ganz andere sind. Love (oder auch: Romance) Scamming findet am allermeisten online über Dating-Plattformen oder Soziale Medien statt. Ähnlich dem Heiratsschwindler, der sich durch eine Hochzeit finanzielle Vorteile ermöglichen möchte, geht es auch den so genannten Love Scammern meist nur ums Geld! Vor allem beim Online-Dating ist also stets eine gesunde Skepsis geboten.“
Nachher ist man immer klüger.
Bis zum Erscheinen meines Textes in der taz waren es viele nicht, auch ich nicht. Weil es hätte gut sein können, dass es den schwulen russischen schwer verletzten Deserteur in einer Klinik in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw wirklich gibt, war der erste Impuls zu helfen, Aufmerksamkeit zu geben, Öffentlichkeit zu schaffen. Die eine oder andere Merkwürdigkeit wurde ausgeblendet – zum Beispiel, dass Sergej K. einen offenkundig gefälschten Pass hatte, dass er um Geldsendungen bat, für ein neues Handy, für die Krankenhaus-OP.
Der Buchhändler aus Bonn ließ fast nichts unversucht. Er schickte einen Gewährsmann zum Krankenhaus in Kiew, der dort aber abgewiesen wurde. Er schrieb an den ukrainischen Botschafter in Deutschland: „Wir bitten Sie herzlich darum, einem jungen Mann eine Chance zu geben, der nie ein Feind der Ukraine sein wollte.“ Er kontaktierte einen Bekannten im Auswärtigen Amt, dem es gelang, die deutsche Botschafterin in Kyjiw zu mobilisieren. Sie telefonierte mit einem hochrangigen Ansprechpartner im ukrainischen Verteidigungsministerium. Und teilte kurz vor Weihnachten dem Bonner Buchhändler mit: „Der Patient dürfte nach geltenden Regeln den Status eines Kriegsgefangenen haben, damit ist eine Ausreise nicht möglich.“ Auch weitere Stellen im Auswärtigen Amt wurden mit dem Ziel eingeschaltet, den Fall zu prüfen.
Auch einem gut vernetzten Bundestagsabgeordneten ließ die Sache keine Ruhe. Er vermittelte im Hintergrund in dem nach seinen Worten „heiklen Fall“ und fragte sich, wie er in dieser Situation die Ukraine überzeugen könne, etwas für einen russischen Soldaten zu tun.
Nach dem Erscheinen des Textes in der taz flog der Schwindel auf. Jetzt meldete sich ein schwuler Richter aus Mecklenburg-Vorpommern, der mit Sergej K. – oder wie auch immer er wirklich heißt – 2019 über ein Dating-Portal in Kontakt gekommen war. Auch ihm hatte der vermeintliche Russe viel geschrieben. Zum Beispiel: „Du weißt, dass es nie einen anderen Mann in meinem Herzen geben wird.“
Die Einzelheiten unterscheiden sich erheblich: Dem Verleger aus Bonn hatte Sergej K. geschrieben, er habe seinen Vater nie gesehen. An den Richter schrieb er, seine Mutter sei gestorben. Dem Verleger schrieb er, er habe ein Schädel-Hirn-Trauma. Dem Richter teilte er mit, er habe sich am Bein verwundet. Der letzten Nachricht an den Richter zufolge liegt der Mann auch nicht in einem Kyjiwer Krankenhaus, sondern befindet sich in der russischen Stadt Belgorod nahe der Grenze zur Ukraine. Bloß um Geld für ein neues Handy hat Sergej K. den Richter auch ersucht, auf ein georgisches Konto.
Der Kontakt mit dem Verleger riss nach dem 17. Januar ab, als das Unterstützernetzwerk nach Dokumenten zur medizinischen Behandlung in Kyjiw fragte. Dem Richter aber schickte Sergej K. Anfang März noch eine Mail. „Ich denke ständig darüber nach, wie ich von hier fliehen kann. (…) Selbst wenn ich sterbe, möchte ich, dass wir uns im Himmel treffen können!“
Man möchte Sergej K. jetzt zum Teufel jagen.