11. September 2022
Kolumne von Robert Fietzke
„Querfront“. Seit mehreren Wochen diskutiert gefühlt halb Deutschland mit erhitztem Gemüt über diesen Begriff, bei dem allerdings nur die Wenigsten genau wissen, woher er kommt und was er eigentlich beschreiben soll. Linke und Nazis demonstrieren am gleichen Tag zum „gleichen Thema“? Querfont! Linke und Nazis benutzen gleichermaßen den (70er-Jahre Begriff) „heißer Herbst“? Querfront, was sonst?
Auch Mission Lifeline hat die Auswüchse dieser Debatte in besonderer Weise zu spüren bekommen, als mein Kolumnistinnen-Kollege Ruprecht Polenz (CDU) vor genau einer Woche seinen Text „Hauptsache heißer Herbst“ veröffentlichte. In den Kommentarspalten ergoss sich massenhaft Kritik, die sich allerdings zumeist auf den Umstand fokussierte, dass ein CDU-Politiker überhaupt für diese (großartige) Seenotrettungsorganisation schreiben darf. Erzürnte Leserinnen wollten wissen, warum Mission Lifeline dem „Lager der Solidarität so sehr in die Kniekehlen trete“ oder warum sich „eine NGO zum Lautsprecher der Regierung“ mache. Adressiert wird das ausgerechnet an eine NGO, die der Bundesregierung jeden verdammten Tag um die Ohren haut, dass sie ihr Versprechen, die afghanischen Ortskräfte zu evakuieren, schamlos bricht. Obendrein scheint sich das Konzept „Kolumne“ oder „Meinungstext“ noch nicht ausreichend herumgesprochen zu haben. Sei es drum. Ich selbst war, gelinde gesagt, auch nicht gerade begeistert von Polenz‘ Ausführungen und habe sie kurz bei Twitter kritisiert. Beispielhaft möchte ich hier nochmal eine Zeile aus seinem Text zitieren, die mich besonders aufgeregt hat:
„Denn sowohl die radikale Rechte wie die Linke hat einen heißen Herbst angekündigt, zu dem beide mit Demonstrationen nach Kräften beitragen wollen. Beiden geht es dabei erst in zweiter Linie um soziale Härten als Folge von Gasknappheit, Inflation und steigenden Preisen. Die Linkspartei versucht, über diesen Protest ihren Abwärtstrend zu stoppen“
Der erste Satz ist korrekt. Es gab sowohl Aufrufe der Linkspartei als auch von verschiedenen Akteur*innen der extremen Rechten, am 05. September in Leipzig zu demonstrieren. Mit dem zweiten Satz offenbart Polenz aber ein Hauptcharakteristikum der Hufeisen-“Theorie“: Sie ist hochgradig unterkomplex, weil sie Differenzierungen bewusst vermeidet, sonst würde sie nicht funktionieren. Sie ist vor allem ein Instrument zur Delegitimierung. Es ist freilich absurd, zu behaupten, einer linken Partei ginge es „nur in zweiter Linie um soziale Härten als Folge von Gasknappheit, Inflation und steigenden Preisen.“. Die soziale Frage ist schlicht und ergreifend der historische Ursprung der politischen Linken und wird immer die Kernfrage linker Politik bleiben, solange sie, im Kapitalismus, ungelöst bleibt. Sie findet niemals nur „in zweiter Linie“ statt.
Für die historische und gegenwärtige faschistische Bewegung war und ist die soziale Frage jedoch vor allem eines: Ein Mobilisierungsinstrument für die Massen. Der Faschismus hat die wesentliche Eigenschaft, thematisch und kommunikatorisch amorph zu sein, d.h. er kann ohne tiefgründige eigene Ideengeschichte sich verschiedener politischer Ideen, gerade auch der der sozialistischen Theoriegeschichte, bedienen, sie kopieren, sie umwandeln und als Versatzstücke zur eigenen politischen Kommunikation hinzufügen. Ein gutes Beispiel dafür ist die neue Liebe von modernen Neofaschisten für den italienischen Kommunisten und Philosophen Antonio Gramsci, der in den letzten Jahren wahrscheinlich häufiger von „Identitären“ und anderen „Neurechten“ gelesen wurde als von Linken, was ihm großes Unrecht tut. Er hatte im Gefängnis des Mussolini-Faschismus eine breit angelegte Theorie über politische Hegemonien, die Bedeutung von Kultur und politischer Kulturarbeit zur Erlangung von Hegemonie aufgestellt, die heute noch hohen Aktualitätswert hat.
In den Ideologieschmieden der extremen Rechten findet diese Aneignung linker Themen, Ansprachen und Codes heute wieder permanent statt; alles nach historischem Vorbild, wenn man so will. Diese Aneignung macht selbst vor Themen wie „Frieden“ keinen Halt, wie die zahlreichen Bezugnahmen durch rechte Bewegungen und Akteur*innen in den letzten Jahren zeigen.
Genau das beschreibt das historische Konzept „Querfront“. Es war und bleibt ausschließlich ein rechtes Projekt, das durch chamäleoneske Flexibilität und größtmögliche Diffusität Anschlussfähigkeit bis tief hinein in linke Milieus erzeugen soll. Der entscheidende Punkt ist: Das macht aus Rechtsextremen trotzdem keine Linken. Und umgekehrt gilt, dass die rein strategische Übernahme linker Forderungen und Ansprachen durch Faschisten nichts an der Legitimität linker Forderungen ändert.
Besonders deutlich wird Polenz‘ unterkomplexe Herangehensweise am Ende, als er, quasi zur abschließenden „Beweisführung“, ausgerechnet die eindeutige und inzwischen juristisch erfolgreich abgemahnte Nazi-Propaganda der „Freien Sachsen“ anführt. Diese hatten ein Sharepic veröffentlicht, indem sie suggerierten, die beiden LINKEN-Abgeordneten Pellmann und Gysi würden bewusst und einvernehmlich mit Jürgen Elsässer, Kohlmann (FS), Anselm Lenz (Demokratischer Widerstand) und André Poggenburg auftreten. Zwar weist Polenz dann noch kurz auf die Klage von Gysi und Pellmann hin, insinuiert aber fragend ein weiteres Hufeisen: „Ob das hilft, wenn die Parolen auf dem Augustusplatz ähnlich klingen?“
Ich war an diesem Montag, dem 05. September, auf dem Leipziger Augustusplatz, um mir mit eigenen Augen anzusehen, was dort passiert und wie viel an den zahlreichen Querfront-Beschwörungen dran ist. Um es kurz zu machen: Nichts. Die LINKE-Demonstration wurde von zahlreichen Antifaschistinnen mit großen Bannern abgeschirmt. Zwischen beiden Kundgebungen standen zudem einige „Hamburger Gitter“. Die Straßenbahn fuhr in normalem Takt über den Augustusplatz. Überall waren antifaschistische Statements zu sehen. Mehrere Rednerinnen betonten mehrfach, dass das hier eine klar antifaschistische und antirassistische Veranstaltung sei. Ordnerinnen schickten Menschengrüppchen mit Deutschlandfahnen weg. Als der „Stargast“ Gregor Gysi gerade redete, war der rechte Aufmarsch bereits unterwegs und wurde auf seiner Route mehrfach von Antifaschistinnen gestoppt, die sich dem parallelen Aufruf von „Leipzig nimmt Platz“ angeschlossen hatten. Später startete dann die linke Demo mit etwa 5.000 Menschen durch die Leipziger Innenstadt. Sie war laut, bunt, divers – und antifaschistisch.
Ein Großteil der Kritik am Pellmann-Aufruf für den 05. September konzentrierte sich im Vorfeld auf die Tatsache, zu einer eigenen „Montagsdemo“ aufzurufen. Die Argumente der Kritikerinnen behaupteten vor allem, dass der Montag insbesondere in Ostdeutschland seit vielen Jahren „verbrannt“ sei, weil er hauptsächlich von Nazis benutzt wird. Diese Kritik halte ich für einigermaßen legitim, zumindest an dem Punkt, an dem ein mobilisierungsstarker linker Aufruf noch mehr Nazis auf den Plan ruft, die das Licht der Öffentlichkeit für ihre Zwecke nutzen wollen. Ein solcher Aufruf sollte also wohl überlegt sein. Das war er offenkundig nicht. Viele Antifaschistinnen und Akteur*innen der außerparteilichen Linken, die mit der Linkspartei sonst eher wenig anfangen können, mussten hier in die Verantwortungsübernahme gehen, um „die Kohlen aus dem Feuer zu holen“. Trotzdem konnte man am Ende des Tages sagen, dass der durchaus sehr riskante Versuch geglückt ist. Die Straßen an diesem Montag gehörten diesmal nicht ausschließlich der extremen Rechten und ihrem Hass, sondern waren erfüllt von progressiven, sozialen und ökologischen Sprechchören. Ist es, mit Blick auf diese gigantische ökonomische Krise, das nicht wert, es wenigstens zu versuchen, den Nazis jeden Tag streitig zu machen?
Leider ist es mit der Partei DIE LINKE meistens so, dass sie, wenn sie mal wieder etwas Gutes macht, direkt wieder etwas Gruseliges fabriziert. Nur vier Tage nach dieser wohl bemerkenswertesten „Wir sind wieder da!“-Regung seit Langem brachte es die LINKE-Bundestagsfraktion zu Stande, ausgerechnet Sahra Wagenknecht zum Thema Energiekrise reden zu lassen, obwohl es innerhalb der Fraktion deswegen heftig zur Sache gegangen sein soll, woraufhin der Thüringer Abgeordnete Ralph Lenkert seinen Rücktritt aus dem Klima- und Energieausschuss erklärte. Die Fraktionsspitze rund um Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali hatte sich, wie immer, wider des Wissens um die heftige Kritik aus den eigenen Reihen, stoisch und beratungsresistent durchgesetzt.
In ihrer Rede sang Wagenknecht nicht nur ein krudes Loblied auf die „guten, alten Zeiten“ der deutschen Industrie, sondern versuchte sich in einer düsteren, fast apokalyptischen Untergangserzählung. Nach einigen schlechten Kalauern gegen Bundesministerinnen (auf Habeck gemünzt: Für ihn solle es keine „Laufzeitverlängerung“ geben, das wäre der „Super-GAU“), bei denen ich mir die Frage stellte, warum zum Teufel diese Frau noch gleich als „rhetorisch besonders begabt“ gilt, kam sie dann zu ihrem Finale: Feinste Kreml-Propaganda. Sie bezichtigte die Ampel-Regierung nicht nur dessen, „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun gebrochen zu haben“, was eine eindeutige Schuld-Umkehr darstellt, denn ohne Kriegsentfesselung gäbe es diese ja Sanktionen nicht, sondern forderte zudem „Schluss mit den fatalen Wirtschaftssanktionen!“. Die Bundesregierung solle über die „Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit Russland“ verhandeln. Über das Leid der Menschen in der Ukraine, über völlig zerstörte Städte, die stattgefundenen Massaker, über all die Millionen geflüchteten Menschen, die Ermordeten, die Getöteten, die Zerbombten sagte sie kein Sterbenswörtchen. Im Zentrum ihrer Gedankenwelt steht das nationale Interesse. Germany first. Es kam dann auch nicht von ungefähr, dass außer den paar Abgeordneten der Linksfraktion – viele nahmen erst gar nicht an der Plenarsitzung teil – nur eine andere Fraktion applaudierte, und zwar lautstark: Die AfD.
Mein Kollege an der Hochschule Magdeburg-Stendal, der Soziologe und Rechtsextremismusexperte Prof. Dr. Matthias Quent, bringt das Dilemma an dieser Stelle wie ich finde sehr treffend auf den Punkt: „Vermutlich war Umverteilungspolitik nie so anschlussfähig wie in dieser existenziellen materiellen Krise. Aber statt naheliegende Forderungen wie Vermögenssteuer zu erheben besorgen Teile der Linken das Geschäft des faschistoiden, oligarchischen, aggressiven russischen Staates. Frau Wagenknecht sind Anti-Amerikanismus, Anti-Liberalismus und Nationalismus wichtiger ist als Antifaschismus, Solidarität und Internationalismus. Damit steht sie den Rechten nahe und einer emanzipatorischen und progressiven Linken im Weg. Schade eigentlich.“
Mit anderen Worten: DIE LINKE kann linke Demonstrationen noch und nöcher organisieren, egal ob an einem Montag, Mittwoch oder Samstag. Wenn ihre eigentlich progressiven, universalistischen und emanzipatorischen Inhalte Woche für Woche von Sahra Wagenknecht und ihrem Hofstaat konterkariert werden, fällt es zunehmend schwer, Widerrede gegen Querfront-Vorwürfe zu organisieren. Denn das Problem ist doch folgendes: Sie treffen im Fall von Sahra Wagenknecht et al. sehr eindeutig zu. Noch am Freitag hatte sie in einem Video die riesige 70.000-Menschen-Demonstration in Prag gefeiert, auf der sowohl Politikerinnen der beiden rechtsextremen tschechischen Parteien SPD und Trikolora als auch Altkommunisten Pro-Putin-Reden hielten. Das ist auch keine neue Entwicklung, sondern zeichnet sich bereits seit dem „Friedenswinter 2014“ ab. Diese Entwicklung ist auch nicht begrenzt auf das Beispiel Wagenknecht, auch wenn sie sicherlich die prominenteste Figur ist. Den Gremien und Spitzenfunktionären in der Partei ist all das auch sehr gut bekannt. Allein, es fehlt an Taten. Und so droht diese Partei, die in dieser verheerendsten sozialen und ökonomischen Krise seit dem 2. Weltkrieg als soziale Oppositionskraft doch so wichtig wäre, unter den Mühlsteinen der eigenen Unfähigkeit, sich endlich klar und eindeutig zu linker Politik zu bekennen, zermahlen zu werden. Vielen Engagierten, die das Herz am richtigen Fleck tragen, die sich an der Basis aufreiben und sich jeden verdammten Tag für eine bessere Welt einsetzen, reicht es schon lange. Es sind Tausende. Mir und meinem Gewissen reicht es auch.
Offener Brief von Jule Nagel, Henriette Quade und Katharina König an Parteivorstand und Bundestagsfraktion DIE LINKE: https://www.es-reicht.org/
Magdeburg im September 2022
Foto: Robert Fietzke