09. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Noch vor ein paar Jahren waren sie reiche Männer. Heute stehen sie in einem kalten Hoteleingang in Mazar-e Sharif – eingehüllt in Tücher, Mützen auf dem Kopf, damit sie niemand erkennt. Wir steigen stillschweigend die dunklen Treppen auf, bevor wir endlich frei reden können. „Siehst Du die Teppichläden unten?”, fragt Abas* (Name geändert), und zeigt aus dem Fenster. „Geh in irgendeinen davon, wirklich in egal welchen, und sag meinen Namen.” Für Abas, den ältesten und erfahrensten der Ladenbetreiber, begann alles mit einem Job als Übersetzer. „Als 2001 die Amerikaner nach Mazar-e Sharif kamen, war ich der einzige, der Englisch sprach”, erzählt er. Damals hat er seinen ersten Teppich an die Ausländer verkauft. Was als Zufall begann, entwickelte sich zu einem Riesengeschäft. Bis 2020 führte Abas mehrere Geschäfte im Camp Marmol, dem größten Militärlager der Nato-Streitkräfte im Norden Afghanistans.
Unter seiner Betreuung haben 2006, als die Deutschen das Kommando über die nördliche Provinz Mazar-e Scharif übernahmen, auch Fawad* und Habib* (Namen geändert) Läden eröffnet. Doch obwohl das deutsche Lager niemals ohne ihre jahrelange Unterstützung überhaupt betriebsfähig gewesen wäre, obwohl sie sich um vielmehr als Souvenirs, sondern um Übersetzer, Drucker, Druckertinte und vieles weitere gekümmert haben, wurde knapp über 70 Ladenbetreibern nach dem Abzug der Truppen im Sommer 2021 eine Evakuierung nach Deutschland verweigert. Der Grund: Angeblich waren sie keine Angestellten der Bundesrepublik, sondern lediglich Geschäftsmänner, die einen Mietvertrag mit der Bundeswehr abgeschlossen hatten.
„Es ist lächerlich”, erzählt Abas. Erstens seien sie mit den meisten Deutschen befreundet gewesen, erzählt er. Sein Kollege Fawad hat einen Zeitungsartikel dabei: „Freunde finden auf einem Basar in Afghanistan”, lautet die Überschrift. „Weißt du, wie viele Offiziere und wie viele Generäle bei mir einkaufen waren?” Er holt tief Luft, ist sichtlich gekränkt. „Und zweitens, haben wir in Ihrem Auftrag gearbeitet, egal was sie sagen”, erzählt er. Wenn irgendwas besorgt werden sollte, dass es nicht gab, ja das man unbedingt brauchte, hat man die Ladenbetreiber gefragt. „Etwa einen neuen Stromgenerator für das Camp oder für weitere Projekte in den Peripherien.” Es waren Abas und seine Kollegen, die dann in die Hauptstadt Kabul oder an die Grenze nach Usbekistan fuhren, dort den Generator oder was auch immer besorgten und an den Zielort brachten.
Alle sechs Monate wurden sie vom Militärgeheimdienst MAD interviewt, darüber hinaus bürgten sie für die anderen Afghanen, die etwa als Putzkraft oder Übersetzer im Camp tätig waren. „Als Händler kennt man jeden, drinnen und draußen.” Darüber hinaus wussten sie über jeden Bescheid. Etwa, wer im Camp als CJ 2 oder AMK stationiert war. AMK nennt sich bei Einsätzen der Bundeswehr der Auslandsgeheimdienst, der BND. Auf ihren Mobilgeräten haben sie alle Dutzende Bilder mit deutschen Soldaten. Die Ladenbesitzer sind auch Träger sensibler Informationen über die Bundesrepublik, die nun den Taliban zum Fraß übrig gelassen worden.
Denn genau hier liegt das Problem: Wenn man jeden kennt, kennt auch jeder einen. Die Gefahr für die Ladenbetreiber könnte größer nicht sein. Für die Taliban sind sie Spione, Menschen, die Geheimnisse über andere an den Feind gegeben haben. Nachdem die Stadt Mazar-e Sharif in der Nacht des 13. August in die Hände der Taliban fällt, beginnt für die Ladenbetreiber des Camp Marmol ein anderes Leben. Wie sehr sich alles verändert hat, realisiert Abas erst ein paar Wochen danach. Er musste in der Stadt ein paar Besorgungen machen und sah eine Journalistin. Aus Deutschland sei sie, erzählt sie ihm. Abas will ihr seine Geschichte erzählen: „Ah, du willst auch nach Deutschland”, sagt sie ihm angeblich. „Sie hat auf mich herabgesehen und wie einen Schmarotzer behandelt”, erzählt er.
Die Ladenbetreiber wollen nun ihr Recht auf Schutz in Deutschland einklagen. Über einen Anwalt wurde am 6. Januar die Anklageschrift eingereicht. Hauptkläger ist Fawad* mit seiner Familie, das Verfahren soll nach einem positiven Urteil für die Kläger dann als Präzedenzfall für die anderen Ladenbetreiber und ihre Familien gelten. Vor Gericht wollen sie beweisen, dass sie nicht nur Inhaber von reinen Mietverträgen waren, sondern Angestellte. So, wie es im Übrigen auch auf den vom Lager ausgestellten Ausweisdokumenten stand: „Employee”. Zu Deutsch: Angestellter. Dazu haben alle Ladenbetreiber über Jahre hinweg und monatlich eine fünfprozentige Steuer auf ihre Einnahmen an die Bundesrepublik entrichtet.
Hätten sie mir nicht solche Hoffnung gemacht”, erzählt er, „hätte ich mein Schicksal akzeptiert. Aber nach dem Friedensabkommen zwischen USA und Taliban haben sie uns jeden Tag gesagt: Keine Sorge, ihr kommt mit.” Auch er betrieb von 2013 bis April 2021 einen Laden im Camp, bis die Bundeswehr – offiziell aufgrund von Corona, inoffiziell aufgrund des beschlossenen Abzugs aus Afghanistan – ihnen kündigte. Seit Ende August haben alle Bundeswehrangehörigen Afghanistan verlassen. Ghazis und seine Familie sind noch hier. Wie auch für alle anderen ist ihr Leben von Angst bestimmt. Jede paar Tage wechseln sie den Ort. Trotzdem haben sie uns für das Interview ein Festessen vorbereitet. Wir sitzen und essen Mantu – afghanische Maultaschen – mit Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren, deren Augen alle schon den Tod gesehen haben.
Sie erzählen beide an separaten Treffen davon, dass unzählige deutsche Soldaten ihre Waffen auf dem Basar beim Einkaufen in den Länden haben liegen lassen und dass sie sie alle wieder zurückbekommen haben. Beide waren sehr glücklich in dieser Zeit, und als alles zu Ende ging, waren mit ihren jeweils vier und fünf Kindern mehrere Tage am Flughafen. Ghazi musste zusehen, wie ein Junge, „jünger als zehn” vor seinen und den Augen seinen Kindern erschossen wird. Haider und Familie waren Augenzeugen des fürchterlichen Selbstmordattentats am 26. August mit über 180 Toten. Beide haben zugesehen, wie die Deutschen, die ihnen immer und immer wieder versprochen hatten, sie mitzunehmen, in jenen grauen Militärmaschinen davongeflogen sind, in denen sie vor 20 Jahren gekommen waren.