12. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Sein Leben findet hinter Fenstern statt, die nicht ihm gehören. In einem fremden Haus harrt der 59-jährige Mohsen* (Namen geändert) aus. Seit fünf Monaten war er nicht vor der Tür. Jahrzehntelang hat er für Afghanistan gekämpft. Zuerst bei den Volksmudschahedin, einer von den USA finanzierten Guerilla, die nach dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 infolge eines zehnjährigen Krieges als Sieger vom Platz gingen. Während der Herrschaft der Taliban kämpfte er wieder aufseiten der Rebellen. Nach dem Einmarsch der US-amerikanisch geführten Militärkoalition als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September wurde Mohsen Mitglied in der neuen Afghanischen Nationalarmee (ANA). Nach über zehn Dienstjahren in der neu gegründeten Armee ist heute von dieser Zeit nichts mehr übrig geblieben als die Angst. Seine Uniformen hat er verbrannt, bis auf zwei, die er besonders lieb hat und die sein Sohn nun in einem Sofakissen versteckt, zusammen mit ihren Papieren.
Wir sitzen mit der Familie im kargen Wohnzimmer. Die Verzweiflung und der Stress stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. „Die afghanische Polizei, die Armee, einfach alles war eine Kreation der ausländischen Kräfte, die sie finanziert und ausgebildet haben”, erzählt Mohsen. „Nachdem sie weg waren, haben sie uns alle in Lebensgefahr hinterlassen.” Seine Tochter Neptun* (Namen geändert) übersetzt für ihren Vater. „Wir alle leben in einem Gefängnis”, sagt sie, „mein Vater, weil er nicht als Ex-Soldat vor die Tür kann, ich als Frau kann nicht zur Arbeit.” Neptun war vor der Machtübernahme der Taliban Lehrerin an einer Privatschule. Auch ihr Bruder kann seiner Arbeit bei einer der größten Banken des Landes nicht mehr nachgehen. Sie harren einfach nur aus, sagen sie, ohne Einkommen, ohne große Hoffnungen.
Die Familie ist ursprünglich aus der Provinz Farah an der Grenze zum Iran im Westen Afghanistans. Im Jahr 2013 ziehen sie nach Mazar. Mohsens Tochter Leila kriegt einen Job als Übersetzerin bei der Bundeswehr in Mazar-e Scharif. Als sogenannte Ortskraft zieht sie 2015 mit ihrem Mann nach Deutschland – weil ihr Leben durch die Taliban bedroht ist. Doch nicht nur ihres ist bedroht, sondern das ihrer ganzen Familie. In Deutschland hat jedoch nur die „Kernfamilie”, also Ehepartner und Kinder, ein Recht darauf, mit der gefährdeten Person auszureisen. Ein sehr zweifelhaftes Prinzip, vor allem in Bezug auf nicht-europäische Haushalte und Familien. In Afghanistan wohnen oft Kinder, Eltern und Großeltern unter einem Dach. Wenn eine Person beispielsweise für die Deutschen übersetzt, weiß das ganze Viertel Bescheid und der gesamte Haushalt hat eine Zielscheibe auf dem Kopf, nicht nur die „Kernfamilie”.
Doch auch hier in ihrem Unterschlupf fühlt sich die Familie nicht sicher. Ihre Nachbarn haben Verwandte, die bei den Taliban sind. Vom Dach aus beobachtet der jüngste Sohn, wie mehrmals bewaffnete Kämpfer der Islamisten im Nachbarhaus ein- und auskehren. Nach einem langen Abschied verlassen wir das Haus der Familie. Beim Wegfahren beobachten wir einen Mann, der vom Nachbardach aus das Haus beobachtet.
Am nächsten Morgen erreicht unsere eine Nachricht der Familie: „Wir sind in Pakistan.” Nach unserem Interview wurde sich bei ihren Nachbarn nach dem Vater erkundigt. Die Familie hatte schon länger vor, den gefährlichen Weg auf sich zu nehmen. Doch dieser Schreckmoment hat ihnen nochmal klargemacht: Wenn wir hier bleiben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden.
Die gute Nachricht: Sie haben es alle wohlbehalten aus Afghanistan rausgeschafft. Die schlechte: Obwohl ihre Schwester seit 2015 in Deutschland ist, weil sie für die deutsche Bundeswehr gearbeitet hat, obwohl der Vater Seite an Seite mit den Nato-Streitkräften gegen die Taliban gekämpft hat, haben sie laut Bundesregierung weiter kein Recht auf Asyl in Deutschland. Es war also in dieser kalten Januarnacht eine Flucht ohne Ziel. Eine notwendige Flucht zwar, doch die Frage nach dem Danach drängt sich nun in den Vordergrund. „Wir wissen nicht, wohin”, schreibt Neptun. „Wir wünschen uns, dass die deutsche Regierung endlich Verantwortung übernimmt.”
Foto: Malzahn