05. dezember2021
Kolumne von Ruprecht Polenz
Abschied von Angela Merkel nach 16 Jahren mit Großem Zapfenstreich. Wer wird was in der neuen Regierung? Steigende Inzidenz-Zahlen und Sorge vor der Omicron-Mutation in der Corona-Pandemie. – Diese und andere Themen absorbieren gerade unsere Aufmerksamkeit.
Deshalb ist aus dem Blick geraten, dass Putin an der russisch-ukrainischen Grenze 100 Bataillone und Kampfgruppen mit über 100.000 Soldat:innen zusammengezogen hat. Allemal genug, um einen großflächigen militärischen Angriff auf die Ukraine zu starten.
Die NATO hat sich letzte Woche auf ihrem Außenminister:innen-Treffen in Riga mit der Lage beschäftigt und klar gemacht, dass ein solcher Angriff nicht unbeantwortet bliebe. Russland müsse dafür einen hohen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Preis zahlen, so die Botschaft des amerikanischen Außenministers Blinken und von NATO-Generalsekretär Stoltenberg.
Das ist das richtige Signal, um die Kosten-Nutzen-Rechnung Putins zu beeinflussen. Aber wie sieht sein Kalkül tatsächlich aus? Was verspricht er sich von dem Truppenaufmarsch? Ist sein Ziel wirklich ein zwischenstaatlicher Krieg mit der Ukraine mit zig tausenden von Soldat:innen auf beiden Seiten?
Außenpolitik ist immer auch eine Folge innenpolitischer Überlegungen. Das gilt ganz besonders für Putin. Die Zustimmung zu seiner Regierung sinkt laut allen Meinungsumfragen. Die wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert. Die Pandemie-Bekämpfung verläuft schleppend.
Putin geht es bei allem politischen Handeln vor allem darum, selbst an der Macht zu bleiben. Seit einiger Zeit reagiert er auf die schlechte Stimmung im Land mit verstärkter Repression. Erst der Mordversuch an Nawalny, dann Schauprozess und Lagerhaft für den Oppositionspolitiker.
Ein 2014 verabschiedetes Gesetz verlangt von jeder russischen Nicht-Regierungsorganisation (NGO), sich selbst als „ausländischen Agenten“ zu bezeichnen, wenn sie finanzielle oder sonstige Unterstützung aus dem Ausland bekommt. Einst hatte Stalin diese Bezeichnung zur Begründung für seine Schauprozesse genutzt. Das ist in Russland unvergessen. Vage Vorschriften und Auflagen geben dem Staat alle Möglichkeiten, angebliche Verstöße gegen dieses NGO-Gesetz zu behaupten und die NGO zu verbieten.
Jetzt soll es mit Memorial die wichtigste Menschenrechtsorganisation in Russland treffen. Der Generalstaatsanwalt hat ein Verbotsverfahren gegen Memorial International und das Memorial-Menschenrechtszentrum vor dem obersten Gericht eingeleitet.
Memorial hat sich unschätzbare Verdienste um die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus erworben. In seinem Archiv befinden sich viele tausend Dokumente, die Memorial von Menschen im ganzen Land zur Verfügung gestellt wurden, um den Verbrechen nachgehen und die näheren Umstände aufklären zu können.
Putin möchte diese Aufarbeitung nicht mehr. Stalin soll vor allem erinnert werden als der Führer im Großen Vaterländischen Krieg. Putin fällt mit seinem Vorgehen gegen Memorial in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus hinter Chruschtschow und den XX. Parteitag der KPdSU zurück. So lassen sich die geschichtspolitischen Linien eines großen, imperialen Russlands ohne große Brüche ziehen: von Katharina der Großen bis Putin.
Das alles vor dem Hintergrund, dass das russische Geschäftsmodell immer weniger zukunftstauglich ist. Es basiert im wesentlichen auf dem Export von Öl und Gas. Die Einnahmen daraus finanzieren den größten Teil des russischen Staatshaushalts.
Weltweit nehmen die Anstrengungen zu, vom Verbrennen dieser fossilen Energieträger wegzukommen und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Nur wenn der CO2-Ausstoss in den nächsten Jahren drastisch sinkt, läßt sich die Erderhitzung begrenzen.
Es ist eine Frage der Zeit, bis die weltweite Nachfrage nach Öl und Gas deutlich zurückgeht. Bisher hat Putin auf die erwartbar geringeren Einnahmen nicht mit Wirtschaftsreformen reagiert. Schon vor vielen Jahren hatte die EU ihm dazu jede Hilfe angeboten.
Alles in allem ist Putins Lage also alles andere als rosig. Da könnte es schon eine Versuchung sein, durch einen außenpolitischen Konflikt abzulenken, um die Bevölkerung wieder hinter sich zu versammeln. Das hatte schon 2008 beim Georgien-Krieg und 2014 bei der Annektion der Krim gut geklappt. Nationalistische Aufwallungen ließen die Zustimmung zu Putin und seiner Politik in die Höhe schnellen.
Aber Georgien und die Krim-Annektion waren hybride Kriege. Hier ginge es um einen richtigen Krieg. Bisher konnte Putin immer so tun, als sei Russland gar nicht wirklich involviert. In Georgien sei man den Südosseten zu Hilfe gekommen. Auf der Krim waren es keine russischen Soldaten, sondern kleine grüne Männchen, die auf einmal alle wichtigen Schaltstellen besetzt hatten.
Auch bei der fortlaufenden Aggression gegenüber der Ukraine im Donbass dementiert Putin jegliche Beteiligung Russlands. Es seien Separatisten, die gegen eine angeblich faschistische Regierung in Kiew für ihre Autonomie kämpften, sagt er. Dass sie dabei durch Milizionäre und Waffen aus Russland unterstützt werden, wird von Putin geleugnet.
Ziel dieser hybriden Kriegsführung ist es, den Gegner zu schwächen, also die Ukraine zu destabilisieren. Gleichzeitig wird das eigene Volk belogen. In der Ukraine gefallene russische Soldaten werden klammheimlich beerdigt, weil es ja keine geben darf, die in der Ukraine gekämpft hätten.
Bei einem großflächigen Angriff mit 100.000 russischen Soldat:innen gegen die Ukraine ließen sich Gefallene nicht leugnen. Auch wenn Russland der Ukraine militärisch deutlich überlegen ist, müßte Putin mit erheblichen eigenen Verlusten rechnen. Die Ukraine verfügt u.a. über Bayrektar-Drohnen aus der Türkei, die den letzten Krieg um Nagorny Karabach zu Gunsten von Aserbeidschan und gegen Armenien entschieden haben.
Vor allem: Welches Ziel sollte Putin mit einem großen Krieg gegen die Ukraine verfolgen? Die Lukaschenko-Regierung wieder einsetzen? Das Land militärisch erobern und Russland einverleiben?
Zwar spricht Putin der Ukraine immer wieder ab, eine eigenstaatliche Nation zu sein. Die Ukraine sei ur-russisch und werde immer zu Russland gehören, behauptet er.
Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er das durch einen großen, verlustreichen Krieg erreichen will. Ihm geht es darum, Druck aufzubauen, damit der Westen die russische Lesart vom „nahen Ausland“ akzeptiert, in dem die Staaten sich nach Moskau zu richten hätten und nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Diese imperialen Ansprüche zu Lasten der Selbstbestimmung von Staaten wie der Ukraine oder Georgiens sind völkerrechtswidrig. Der Westen darf sie nicht anerkennen.
Gleichzeitig gilt es durch kluges Verhalten, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. Russland hat im November 2021 seine Arbeit im Brüsseler NATO-Büro komplett eingestellt. Der NATO-Russland-Rat liegt auf Eis und tagt nicht mehr. Es gibt keine direkten Gesprächskanäle mit der NATO mehr. Putin spielt mit dem Feuer möglicher Missverständnisse.
Der NATO-Außenministerrat hat klar gemacht, welche großen Nachteile für Russland mit einem großflächigen militärischen Angriff auf die Ukraine verbunden wären. Bereits im Sommer 2021 hatte es einen ähnlichen Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze gegeben. Nach einem Treffen mit Biden zog Putin die Truppen wieder zurück. Es ist zu hoffen, dass er jetzt auf die klare Haltung der NATO-Außenminister ebenso reagiert.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP