05. September 2022
Kolumne von Michael Bittner
Ziemlich oft wird derzeit die Behauptung geäußert, es lebten zu viele Menschen auf der Erde. Aber seltsamerweise hält nie jemand sich selbst für entbehrlich. Überzählig sind immer die anderen. Das Wort „Überbevölkerung“ ist in aller Munde, aber die Gedanken, die mit ihm verknüpft werden, sind sehr verschieden. Es gibt ökologisch Engagierte, die mit Recht darauf hinweisen, dass eine wachsende Weltbevölkerung auch immer mehr Ressourcen verbraucht, von denen viele knapp und endlich sind. Mehr Menschen brauchen für ihre Städte und Felder, für ihre Fabriken und Müllhalden auch mehr Raum, den sie nicht selten den Tieren rauben. Je größer die Menschheit, desto größer auch der Ausstoß von Kohlendioxid, was uns in die Klimakatastrophe treibt. All dies ist aber kein Schicksal. Es scheint nur denen so, die den fossilen Kapitalismus für unabänderliches Schicksal halten, statt daran zu arbeiten, ihn selbst zum Fossil zu machen.
Ganz anderes geht Rechten durch den Kopf, wenn sie von „Überbevölkerung“ reden. Die Verteidiger der Ungleichheit haben auch, was die Frage der Fortpflanzung verschiedener Menschengruppen angeht, sehr ungleiche Ansichten. Weiße kann es für sie gar nicht genug geben. Die niedrigen Geburtenzahlen in Europa bringen sie um den Schlaf, ihr Alptraum ist der Untergang des Abendlandes. Wenn sie die Macht dazu hätten, würden sie weißen Frauen eine Mindestkinderzahl vorschreiben. Ganz anders ihr Blick nach Süden und Osten: Die Kinder, die in Asien und Afrika geboren werden, sind dem Rechten ein Graus, denn er fürchtet, dass solche Säuglinge schon in der Wiege planen, die Macht in Europa durch Bevölkerungsaustausch zu erobern. Auch so manchem Ökonazi, der behauptet, ihm bereite „Überbevölkerung“ wegen der lieben Mutter Natur große Sorgen, geht es in Wahrheit darum, seine eigenen Privilegien nicht mit Vätern falscher Herkunft teilen zu müssen.
Schaut man in die Geschichte, dann haben manchmal Theorien der Überbevölkerung, manchmal Theorien der Unterbevölkerung in der öffentlichen Debatte Konjunktur. Das liegt daran, dass es die Ökonomie ist, die bestimmt, wie auf solche biopolitischen Fragen geantwortet wird. In Zeiten, in denen mehr Menschen leben, als die Produktion gebrauchen kann, fürchten die Herrschenden die Überbevölkerung. In Zeiten, in denen es dem Kapital an Arbeitskräften mangelt, ermuntert die Regierung ihre Untertanen zur fleißigen Vermehrung. Ob Menschen versorgt werden können, hängt weniger von ihrer Zahl ab als davon, wie Güter produziert und verteilt werden. Hunger ist nie nur die Strafe der Natur für übermäßige Reproduktion, er wird zumeist durch das Versagen von Mächtigen verursacht oder bewusst von ihnen herbeigeführt. Mit einer gerechten Wirtschaftsordnung wären alle Menschen auf der Erde zu ernähren.
Trotzdem bekäme es dem Planeten gewiss gut, wenn die Weltbevölkerung nicht endlos weiterwüchse. Dazu aber sind weder Gewalt noch Zwangsmaßnahmen nötig, auch keine Rückkehr zum kärglichen Leben auf bäuerlicher Scholle. Es reicht, Menschen durch Aufklärung vom religiösen Aberglauben zu befreien und sie aus der Armut zu erheben, Frauen das Recht auf ihren eigenen Körper zu garantieren, ihnen Verhütungsmittel und Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu verschaffen. Wo immer die Zivilisation Fortschritte macht, wird Sexualität nicht nur zu einer selbstbestimmten Sache, sie verträgt sich auch zwanglos mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Schon jetzt ist absehbar, dass die Weltbevölkerung in Zukunft wieder abnehmen wird. Gänzlich überflüssig sind menschenfeindliche Warnungen vor überflüssigen Menschen.
Foto: Amac Garbe