07. Mai 2023
Kolumne von Ruprecht Polenz
“Drei Wochen nach dem Urteilsspruch wurde Rustem nach Nowotscherkassk transportiert und ist dort bis heute inhaftiert. Er wurde gewaltsam von der Krim in die russische Region Rostow verlegt, was einer Entfernung von mehr als 850 Kilometern entspricht.
Die Haftbedingungen waren zunächst schrecklich… Laut aktuellem Stand wurde er nun in eine andere Zelle verlegt, wo die Bedingungen etwas besser sind…Dieses repressive Regime hat bereits das Leben von über hundert Menschen zerstört. Sie, genau wie mein Mann, sind nicht schuldig an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen“
Das schreibt mir, über die ukrainische Botschaft, Surie Sheihalijewa, die Ehefrau von Rustem Sheihalijew. Rustem ist Krimtatar. Ich betreue ihn auf Bitte der ukrainischen Botschaft als politischen Gefangenen. Dazu gehört auch, seinen Fall öffentlich zu machen, damit er und andere willkürlich Inhaftierte nicht vergessen werden. Dafür hat mir die Familie Fotos, Briefe und Dokumente zur Verfügung gestellt.
Wegen den russischen Repressionen gegen die Krimtataren begann der Lebensmittel-Händler Rustem Sheihalijew an Prozessen teilzunehmen. Er half Familien von politischen Gefangenen und organisierte die Beschaffung von Lebensmitteln für illegal verhaftete Landsleute.
Seit 2015 ist er ein Bürgerjournalist, der Fotos und Videos mit der Handykamera aufnimmt und über Verfolgungen von Krimtataren berichtet.
Am 27. März 2019 wurde Rustem Sheialijew nach der größten Durchsuchungsaktion in den Häusern der Krimtataren grundlos verhaftet. Er wurde als Zivilist vom Militärgericht des südlichen Bezirks am 24. November 2022 zu 14 Jahren Haft in einer strengen Regimekolonie verurteilt
Er schreibt mir:
„Als ich 13 Jahre alt war, verließ ich meine Eltern, packte meine Sachen und fuhr mit einem Zug auf die Krim. In die historische Heimat meiner Vorfahren, wo die Eltern meiner Mutter bereits lebten. Im Jahr 2000 gründete ich eine Familie…
Zum Zeitpunkt meiner Inhaftierung war ich als Selbstständiger tätig und verkaufte Lebensmittel auf dem zentralen Markt in Simferopol. Ich lebte seit mehr als 26 Jahren in der Umgebung Kamenka. Meine Nachbarn kennen mich als anständigen Familienvater und als jemanden, der oft die örtliche Moschee besucht…
Am 27. März 2019 kam es in den frühen Morgenstunden zu illegalen Festnahmen. Meine Familie war unter den Opfern der Gewalt und ich wurde festgenommen…
Später wurde ich des Terrorismus und der Machtergreifung in der Russischen Föderation beschuldigt, ohne dass ich Waffen oder Verbindungen zu den höheren Rängen der Macht hatte.
Unschuldige Menschen wurden als schuldig bezeichnet. Auf diese Weise wurde versucht, das gesamte krimtatarische Volk zu demütigen, auseinander zu brechen und einzuschüchtern.
Im Januar 2020 wurde ich rechtswidrig von der Krim in die Stadt Rostow am Don ins Gefängnis Nummer 1 gebracht. Am 24. November 2022 wurde ich zu 14 Jahren strengem Regime verurteilt. Davon waren 4 Jahre ab dem Moment der Ankunft Innenhaft (Hochsicherheitsgefängnis).
Nach Erhalt des Urteils habe ich Berufung eingelegt. Zurzeit befinde ich mich im Nowocherkassk, Gefängnis Nummer 3, und warte auf mein Berufungsverfahren.
Seit meiner Verhaftung hat sich mein Gesundheitszustand verschlechtert. Ich habe regelmäßig Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Schmerzen in der Wirbelsäule und im unteren Rücken.
Bei der Zwangsuntersuchung im psychiatrischen Krankenhaus wurde festgestellt, dass sich in beiden Nieren kristalline Ablagerungen (Nierensteine) befinden. Ich habe Hautprobleme und meine Zähne sind wegen Vitaminmangels abgebrochen.
Meine ältere Mutter, meine Frau, die gesundheitliche Probleme hat, und die ganze Familie steht jetzt ohne Ernährer der Familie da.
Die Anklage selbst und der Artikel sind haltlos, die geschmierten Zeugen und das gesamte Strafverfahren ist auf Lügen aufgebaut. All dies ist eine staatliche Anordnung, die bedingungslos und unter Verletzung aller Normen und Konventionen ausgeführt wird. Die Tatsache, dass ich und alle anderen politischen Gefangenen ukrainische Staatsbürger sind und der russische Pass nur unter Zwang ausgestellt wurde, wird ignoriert und nicht beachtet.
Im Vertrauen auf den Herrn erwarte ich ein gutes Ergebnis.“
So sieht der Alltag der Russifizierung auf der Krim und in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten aus. Der Fall von Rustem Sheihalijew steht exemplarisch für das tragische Schicksal der Krimtatar:innen.
1444 hatte Haci Giray auf der Krim ein Khanat gegründet, das sich als über Teile Südrusslands und viele Bereiche der heutigen Ukraine erstreckte.
Das tragische Schicksal der Krimtatar:innen
1771 eroberte Russland die Krim, versprach der Bevölkerung aber weiterhin ihre Unabhängigkeit. 1783 entschied sich die russische Zarin Katharina die Große dazu, die Krim zu annektieren. Viele Krimtataren wurden vertrieben und siedelten sich in Bulgarien und Rumänien an. Auf der Schwarzmeer-Halbinsel waren sie seither in der Minderheit.
Im Krimkrieg kämpften die Tataren 1853 an der Seite der Osmanen gegen die Russen. Mit dem osmanischen Heer verließen weitere 100.000 Krimtataren die Halbinsel.
Nach dem Sturz des Zaren 1917 machten die Krimtataren einen neuen Anlauf zu einem eigenen Staat. Aber 1921 wurde die Krim zu einer Sowjetrepublik gemacht. Es gab zunächst kulturelle Sonderrechte, die von Stalin später wieder zurückgenommen wurden. Im Holodomor, der 1932/33 verbrecherisch von Stalin herbeigeführten Hungerkatastrophe in der Ukraine, starben 15 Prozent der Menschen, die auf der Krim lebten.
Die Krimtataren fühlten sich von Russland unterdrückt. Als Nazideutschland im 2. Weltkrieg die Krim besetzte, wurden die deutschen Soldaten deshalb zunächst teilweise wohlwollend empfangen. Es kam zur Kollaboration mit der Wehrmacht.
Nachdem die Rote Armee die Krim zurückerobert hatte, wurde vom 18. bis zum 20. Mai 1944 die Massendeportation des krimtatarischen Volkes aus ihrer Heimat durchgeführt. Über 200.000 Krimtataren wurden durch Truppen des Innenministeriums der UdSSR in Viehwaggons getrieben und unter unmenschlichen Bedingungen in entlegene Gegenden Zentralasiens, auch nach Sibirien und in den Ural verschleppt. Allein auf den Transporten starben zwischen 22 und 46 Prozent der Deportierten.
Die Krim wurde 1957 in die ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Zwar erreichten die verbliebenen Krimtataren dass sie 1967 vom kollektiven Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis freigesprochen wurden. Aber auf die Krim zurückkehren durften sie nicht.
Das änderte sich erst in den 80er Jahren. Seitdem sind 266.000 Krimtataren auf die Krim zurückgekehrt. Sie durften sich allerdings zunächst nicht in ihren ursprünglichen Gebieten niederlassen.
1990 erklärte sich die Ukraine in einem Referendum für unabhängig. Auch auf der Krim hatte eine Mehrheit der Bevölkerung (54 Prozent) der Trennung von Russland zugestimmt. Die Krim wurde zu einer Autonomen Republik innerhalb des ukrainischen Staates. Die krimtatarische Minderheit erhielt mit der Kurultai eine eigene Nationalversammlung und einen Rat (Medschlis).
2014 rief der Medschlis dazu auf, das Referendum über die Angliederung der Krim an Russland nicht zu unterstützen. Er wurde 2016 vom Obersten Gericht der Krim als „extremistische Organisation“ eingestuft und verboten. Der Medschlis arbeitete danach im ukrainischen Exil weiter und verurteilte am 28. Februar 2022 den russischen Überfall auf die Ukraine.
Auf der Krim haben inzwischen nur noch drei Prozent der Schüler:innen einen Zugang zur krimtatarischen Sprache.
Die Organisationen der etwa 250.000 Krimtatar:innen sind verboten.
Die Russifizierung schreitet voran.
Rustem Sheihalijew ist eines ihrer Opfer.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP