28. April 2022
Von Matthias Meisner
Vor einer Woche schrieb Sascha Lobo in seiner Kolumne für den „Spiegel“ über „Lumpen-Pazifisten“. Das war sein Begriff für selbstgerechte Menschen, Menschen, die „im Angesicht des russischen Angriffshorrors in der Ukraine nichts tun wollen, genau: nichts“. Er fand sie in der Evangelischen Kirche, in der Politik „und noch spezieller in der SPD“, in der Friedensbewegung, mindestens „in einem substanziellen Teil“ dieser Bewegung. Lobo urteilte über diesen „deutschen Lumpen-Pazifismus„: „Es handelt sich dabei um eine zutiefst egozentrische Ideologie, die den eigenen Befindlichkeitsstolz über das Leid anderer Menschen stellt.“
Womöglich wäre die Bewertung von Lobo noch ein wenig schärfer ausgefallen, hätte er den am Wochenende von der „Berliner Zeitung“ veröffentlichten Offenen Brief gekannt, in dem sich sogenannte Intellektuelle unter der Überschrift „Deeskalation jetzt! Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen“ an Bundeskanzler Olaf Scholz wandten. Der illustre Kreis der Unterzeichner:innen forderte letztlich eine Kapitulationserklärung Kiews, nur mühselig verbrämt in Formulierungen wie der, die „vorherrschende Kriegslogik“ müsse durch eine „mutige Friedenslogik“ ersetzt werden. Waffenlieferungen an die Ukraine sollten eingestellt werden. Stattdessen solle die Regierung in Kiew ermutigt werden, „den militärischen Widerstand – gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung – zu beenden“.
Nur wenige Unterzeichner:innen waren halbwegs prominent, der Liedermacher Konstantin Wecker etwa oder die Schriftstellerin Daniela Dahn. Die meisten beziehen ihren Ruf aus der der Vergangenheit, etwa die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), die vor Jahren bei der „Aufstehen“-Initiative von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine mitmischte. Der frühere Linken-Bundestagsabgeordnete Norman Paech war 2010 mit an Bord bei der Hilfsflottille für den Gaza-Streifen. Ein anderer Unterzeichner organisierte Anfang der Nullerjahre eine Spendenkampagne für den irakischen Widerstand, ein weiterer publiziert in iranischen Regime-Medien. Geballtes Linkssektierertum.
Ein Dokument der Niedertracht: Die Ukraine soll um des lieben Friedens willen endlich kapitulieren. Wer ihr Waffen liefert, öffnet das Tor zum Atomkrieg. Wenn sich die Ukrainer ergeben, ist Putin vielleicht gnädig. @saschalobo nannte das #Lumpenpazifismus https://t.co/DdS8oo7uA2
— Ralf Fuecks (@fuecks) April 22, 2022
Dass die „Berliner Zeitung“ den Offenen Brief von Wecker, Dahn und anderen veröffentlichte, ist wohl auch kein Zufall. Der verschwörungsideologische Blog „NachDenkSeiten“ zählte das Blatt vor ein paar Tagen zu den wenigen Medien, die sich nicht der „aktuellen Wucht der Meinungsmache“ in der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg unterordnen würden. Zu den „Ausnahmen in dem niederschmetternden Gesamtbild“ zählen demnach, mindestens teilweise, neben der „Berliner Zeitung“ auch „Der Freitag“, auf jeden Fall aber „einige Alternativmedien“ (die in Wahrheit verschwörungsideologische Medien sind) sowie die (linksradikale) Zeitung „Junge Welt“. Und natürlich das (von der EU verbotene) Programm von RT Deutsch. Der große Rest der deutschen Medienlandschaft sei „endgültig im Rausch“, hieß es auf dem vom früheren SPD-Politiker Albrecht Müller verantworteten Portal.
„Ein Dokument der Niedertracht“, empörte sich Ralf Fücks von der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne über den Offenen Brief von Konstantin Wecker & Co. Der frühere ukrainische Außenminister Pavlo Klimkin schrieb an die „Berliner Zeitung“, er „befürchte, dass dieser Brief Teil einer breiteren Zurückhaltung oder Unfähigkeit ist, die Essenz des heutigen Russlands zu verstehen“.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg ist zur Propagandaschlacht geworden – auch in deutschen Medien. Drei Tage vor Kriegsbeginn durfte der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, russische Lügen in der Chemnitzer „Freien Presse“ ausbreiten und über die „unterkühlten Beziehungen“ des Westens zu Russland sprechen. Das Interview war vor der Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk durch Moskau geführt worden, erschien aber danach. Überschrift: „Wir planen keine Offensive.“
April Monitoring #5
Herausgeber der #Nachdenkseiten ist Ex-SPD-Politiker #AlbrechtMüller. Das Blog ist beliebt auch im linken Spektrum. Neben Verurteilungen sind Rechtfertigungen für den russischen #Angriffskrieg auf die #Ukraine zu lesen.#Gegenmedien
????https://t.co/Fb5I0OC6jW pic.twitter.com/n8LWXHN6Ec— Gegenmedien (@gegneranalyse) April 25, 2022
Zwei Monate später kam dann im gleichen Blatt der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, zu Wort, der seit dem 24. Februar zum bekanntesten Diplomaten in Berlin überhaupt geworden ist. Die einen kritisieren seinen „rüpelhaften Tonfall“. Die anderen loben seine klaren Worte, bei denen Politiker:innen der SPD nicht gut wegkommen, der Linken, FDP-Chef Christian Lindner. Oder auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Dem warf Melnyk vor, mit „Kumpelchen Putin“ zu kuscheln.
Melnyks Interview in der „Freien Presse“ erschien unter der Überschrift „Putin kennt die deutsche Seele“. Diesmal – kurioserweise anders als nach dem Gespräch mit dem russischen Botschafter – fegte ein „wahrer Sturm der Entrüstung“ über die Redaktion, wie der Leserobmann der Zeitung berichtete. Mehr als 50 Leser:innen hätten geschrieben, nur in einem Brief wurden die Redakteure für das Interview gelobt. Die „Freie Presse“ druckte dann eine ganze Seite Leserbriefe zu dem Interview: Warum man „dem Mann“ überhaupt eine Bühne gegeben habe? Ein Leser schrieb: Beim Lesen des Interviews sei bei ihm „der Blutdruck auf 180 gestiegen“. In einem anderen Brief hieß es: „Melnyk gehört ausgewiesen. Er hat seinen diplomatischen Status verspielt.“
Es ist alles sehr schwer auszuhalten: die „Lumpen-Pazifisten“, von denen Sascha Lobo spricht. Die Doppelmoral des Barden Konstantin Wecker und seiner Mitstreiter:innen. Das Verständnis für Putins Angriffskrieg unter Leserbriefschreiber:innen aus Sachsen. Es ist schwer auszuhalten, dass die Kreml-Propaganda ihre Wirkung tut. Und das mehr als zwei Monate nach Beginn eines Krieges, dessen Ende noch längst nicht absehbar ist.