23. August 2022
Kolumne von Özge Inan
Warum musste Mohammed D. sterben? Der sechzehnjährige Senegalese wurde am 9. August in Dortmund durch fünf Polizeikugeln getötet. Es ist ein inzwischen typisches Szenario. Jemand befindet sich in einer psychischen Ausnahmesituation, hantiert mit einem Messer, scheint sich selbst verletzen oder gar umbringen zu wollen. Außenstehende tun, was man eben tut, wenn etwas nicht stimmt, sie rufen die Polizei. Und besiegeln damit das Schicksal des Betroffenen.
Warum passiert das immer wieder? Warum haben die Opfer so oft das gleiche Profil – männlich, ausländisch, psychisch krank? Und was muss getan werden, um solche Fälle künftig zu verhindern? Zwischen auslaufendem 9€-Ticket, tropischer Sommerhitze und Energiespartipps aus dem vorindustriellen Zeitalter gehen diese Fragen allmählich unter. Deutschland kann tote Migranten nach wie vor recht gut verschmerzen, wenn es gerade Dringenderes gibt.
Die meisten deutschen Polizisten wachen nicht morgens auf und überlegen, welchen psychisch kranken Ausländer sie heute über den Haufen schießen könnten. Dass es diese Gruppe trotzdem überproportional häufig trifft, dürfte zum einen daran liegen, dass sie am häufigsten mit der Polizei in Berührung kommt. Empirische Daten gibt es dazu nicht, allerdings berichten Polizisten selbst immer wieder davon. So spricht etwa im SPIEGEL ein Bundespolizist von der „Hauptklientel“, die „in den allermeisten Fällen (…) Araber und Afrikaner“ seien. Eine Bochumer Polizistin bestätigt das, ein Berliner Polizist konkretisiert, es handle sich um „60 bis 70 Prozent“. Weiterhin ergab eine repräsentative Untersuchung in Baden-Württemberg, dass fast jeder fünfte Kontakt im polizeilichen Berufsalltag zu einem psychisch kranken Menschen erfolgt. Es dürfte also kaum jemand so oft mit der Polizei zu tun haben wie migrantische Männer in psychischen Ausnahmesituationen.
Das eigentliche Problem fängt hier aber erst an. Wie man es auch dreht und wendet, es handelt sich um Kräfte, deren berufliche Kernkompetenz im Empfangen und Erteilen von Befehlen besteht. Der polizeiliche Modus Operandi lautet Gefahr erkennen, Anweisung erteilen, Zwang androhen, Zwang anwenden. Solange sich hieran nichts Grundlegendes verändert, ist die Polizei für den Umgang mit psychischen Krisen schlicht und ergreifend ungeeignet.
Das bestätigen auch Experten. Im Polizeialltag bleibe „selten die Zeit, von einer dominanten Position ‘ich sag hier jetzt, wo es lang geht‘ auf eine empathische Ebene zu wechseln. Dies kann dazu führen, dass Situationen schnell eskalieren“ sagt Polizeiforscher Alexander Bosch im Interview mit Belltower News. Kriminologe Thomas Feltes erklärt im Gespräch mit der taz, die Beamten würden oft nicht erkennen, wenn sie überfragt sind. „Ein Hauptproblem besteht (…) darin, dass Polizeibeamte ein Problem unbedingt selbst und sofort lösen wollen, ohne geeignete Fachleute zurate zu ziehen. Psychisch gestörte Menschen mit gezogener Waffe zu konfrontieren, Pfefferspray oder gar Hunde gegen sie einzusetzen, führt unweigerlich zur Eskalation der Situation“, so Feltes. Zwar gebe es Notfalldienste in allen größeren Städten, diese müssten aber bekannter und präsenter gemacht werden, etwa durch aushängende Listen in den Einsatzzentralen.
Tödliche Polizeieinsätze lassen sich fast immer vermeiden. Dafür müssen wir aber, neben massiven Investitionen in die sozialpsychiatrischen Dienste, ein besonders kniffliges Kunststück vollbringen: der Polizei begreiflich machen, dass sie manchmal einfach nicht zuständig ist.
Foto: Timo Schlüter