Pirna ist überall

Pirna ist überall

27. November 2023

Von Matthias Meisner

Um es in den Worten der Schriftstellerin Anne Rabe zu sagen: „Wer wissen will, welche Abgründe hinter den fabelschönen Fassaden von Rostock bis Erfurt lauern, kann in die Wahlergebnisse der letzten Jahre schauen oder sich gleichgeschlechtlich auf dem Marktplatz von Cottbus küssen“, schreibt sie in „Die Möglichkeit von Glück“.

Anne Rabe hätte in ihrer Aufzählung noch Pirna erwähnen können.

Oder, um es in den Worten der Autorin Tina Pruschmann zu sagen: „Georg (…) sieht die Männer an den Bierbänken, denen das Hemd über dem Bauch spannt, sieht den Bergmannszug in schwarzer Tracht vor der Bühne in der ersten Reihe sitzen, sieht etwas abseits eine Hippiefrau im Batikrock mit einer Gruppe bunt geschminkter Kinder, sieht ein Kind in einem Kinderwagen, das wild mit den Beinen strampelt und lacht, und an den Kinderwagen angebunden wehen die blauen Luftballons der Neuen Rechten stramm im Wind“, endet einer ihrer wunderbaren Bandwurmsätze in „Bittere Wasser“.

Der Roman spielt in dem fiktiven Ort Tann, laut Pruschmann „schönste Gemeinde Mitteldeutschlands“. Er könnte, den Bergmannszug weggedacht, auch im idyllischen Pirna spielen.

Wir müssen reden über die Radikalisierung von immer größeren Teilen der bürgerlichen Mitte. Über den Terror gegen Geflüchtete. Über Coronaleugner:innen, die nicht einmal halt machen vor dem Vergleich des Impfens von Kindern mit den Medizinversuchen der Nazis. Über den Widerhall der Kreml-Propaganda in Deutschland. Über den wachsenden Antisemitismus in all seinen Facetten. Über Pirna.

Leider können wir dieses Gespräch demnächst nicht mehr an dieser Stelle führen. Vorerst jedenfalls. Das Kolumnen-Projekt von Mission Lifeline macht Pause. Das Schiff Rise Above, mit dem mehr als 3000 Menschen gerettet werden konnten, ist altersschwach geworden. Um ein neues Schiff zu chartern, werden viel Kraft und alle Mittel benötigt, zumal ja auch die humanitären Einsätze in Afghanistan und der Ukraine nicht auslaufen sollen.

Als ich mich vor drei Jahren selbständig machte, war es mir eine Ehre, in den Kreis der Kolumnist:innen bei Mission Lifeline aufgenommen zu werden. Alles an der Initiative gefällt mir: dass sich eine NGO einmischt in gesellschaftliche Debatten. Die wunderbaren und klugen Mitstreiter:innen von Hatice Akyün über Stephan Anpalagan, Dax Werner und Michael Bittner bis Ruprecht Polenz. Das mit der Autorenschaft verbundene Statement für die zivile Seenotrettung. Meine Kolumne „Der ,Moria-Komplex‘ und die Ohnmacht der Helfer:innen“ erschien 2022 im von Mission Lifeline herausgegebenen Sammelband „Auf dem bodenlosen Meer“.

Die Kolumne macht Pause, aber wir reden weiter über die Abgründe im Land. Wir müssen reden, wir alle. Matthias Quent schreibt in dem Schweizer Magazin „Republik“ über die AfD: „Ihre Kooperationen mit Neonazis, staatsfeindlichen Reichsbürgerinnen und Überschneidungen zum rechtsterroristischen Untergrund sind gut dokumentiert, empören aber immer weniger.“

Zu den schwarz-blau-braunen Allianzen stellt Quent fest: „An der Basis gibt es Unionsmitglieder, für die ,Brandmauer‘ nur ein Medienbegriff aus dem fernen Berlin ist – und die ungeachtet der Parteibeschlüsse ihr eigenes Ding durchziehen.“ Der Forscher bilanziert: „Deutschland kippt nach rechts.“

Als die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, eine Freundin der Neuen Rechten, für die Freien Wähler zum 9. November eine Lesung aus Victor Klemperers Buch LTI über die Sprache des Dritten Reiches organisierte, gewann sie nicht nur Uwe Steimle, sondern auch den früheren Vizechef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz, als Vorleser. Also Deutschlands mutmaßlich unwitzigsten Kabarettisten und einen Bürgerrechtler, der zum rechten Bürger mutiert ist.

Der Reclam-Verlag, der die Rechte an Klemperers Werk hat, hatte zunächst klare Kante gezeigt und die Lesung untersagt. Nach einigen Tagen aber gab er dem Shitstorm rechter Publizisten nach und beauftragte einen Rechtsanwalt als Vermittler, der nach eigenem Verständnis nicht für seine Haltung bezahlt wird. Er wies Kritik an der Inszenierung von Dagen, Steimle, Vaatz & Co. zurück. Es dürfe keinen „Generalverdacht“ geben.

In die Bredouille gerieten so nicht jene, die sich der perfiden Vereinnahmung von Klemperers Werk widersetzten, sondern jene wie die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke), die den Freien Wählern die städtischen Räume aus guten Gründen entziehen wollten. Der Erste Bürgermeister von Dresden, Jan Donhauer (CDU), setzte sich damals über Klepsch hinweg und ordnete die Raumvergabe an. Vaatz sei ein „in Dresden bekannter Demokrat“, schrieb er in seiner Weisung, es handele sich deshalb „vorliegend nicht um eine ,neurechte‘ Veranstaltung“.

So wird das Zusammenspiel mit der Neuen Rechten normalisiert. Gang und gäbe ist es auch in Pirna. Der am Sonntag auf dem Ticket der AfD gewählte neue Oberbürgermeister Tim Lochner, ein Tischlermeister, war bis Herbst 2016 in der CDU. Die AfD, für die er sich einspannen lässt, ist laut neuer Expertise des Verfassungsschutzes in Sachsen „gesichert rechtsextremistisch“. Lochner kehrte der CDU wegen Angela Merkel den Rücken.

2017 wollte Lochner in Pirna kurz vor der Bundestagswahl ein – letztlich geplatztes – Forum mit der damaligen AfD-Bundesvorsitzenden Frauke Petry und der früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld organisieren.

Auch Maximilian Krah liebt Pirna. Der Spitzenkandidat der AfD bei der Europawahl 2024 war jahrelang Mitglied des Dresdner CDU-Kreisvorstandes. Seit Jahren engagierte er sich für dubiose China-Allianzen, bereiste immer wieder das Land, baute ein deutsch-chinesisches Lobby-Netzwerk mit auf: Pirna und auch der dortige parteilose Stadtrat Lochner spielen dabei laut Recherchen von „t-online“ und „Süddeutscher Zeitung“ eine wichtige Rolle.

Wie alles zusammenhängt, lässt sich immer wieder gut auch anhand von Uwe Steimle erzählen: Im Juli 2015 wurde er für das Kulturprogramm der Vertreterversammlung der Volksbank Pirna im Bad Schandauer Parkhotel verpflichtet. Das Geldinstitut lobte anschließend seinen „lakonischen Witz“ und seine „feine Ironie“. Im Mai 2016 feierte Lutz Bachmann bei einer der montäglichen Pegida-Kundgebungen Steimle. Er bewundere, was der „im Staatsfernsehen“ so alles raushaue, das sei „spektakulär“, sagte der Anführer der rassistischen Bewegung.

Im Mai 2016 gab Steimle RT Deutsch ein Interview. „Deutschland ging es immer gut, wenn wir mit den Russen gemeinsame Sache gemacht haben“, sagte er. Im Buch „Unter Sachsen“ schrieb Amrei Drechsler dazu 2017, im Interview sei „wieder alles drin“ gewesen: „Medienschelte, Russland- und Putinharmonie, Ostromantik, Frieden natürlich, Merkel, Antiamerikanismus, der ganze Bogen.“ Steimle hat den Buchbeitrag nicht vergessen – erst vor wenigen Wochen empörte er sich in seinem Videoformat „Aktuelle Kamera“ darüber.

Ende 2019 entschied der MDR, die Sendung „Steimles Welt“ aus dem Fernsehprogramm zu nehmen. Steimle habe „wiederholt und massiv Grundwerte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Frage gestellt“, hieß es zur Begründung. Der parteilose Pirnaer Stadtrat Tim Lochner – also der jetzt gewählte neue Oberbürgermeister – machte sich anschließend für Steimle stark und fragte, auf welchen Mitarbeiterkodex sich der MDR überhaupt beziehe. Er suggerierte, vielleicht gebe es einen solchen gar nicht. So werden Verschwörungstheorien fabriziert.

Ende 2021 startet der nicht mehr für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätige Steimle ein Youtube-Format „Steimles Neue Welt“ – und lässt es von der Volksbank Pirna sponsern. Im November 2023 wird durch Recherchen des „Tagesspiegels“ bekannt, dass Spenden für das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht“ auf ein Konto bei der Volksbank Pirna gehen und zum Kundenkreis der Bank auch russische Staatsmedien gehören. Obwohl all diese Kunden gar keine regionalen Bezüge zu Pirna haben.

So schließen sich die Kreise: Steimle, Lochner, Krah, Vaatz, Dagen. AfD und CDU. Russland und China. Die einen wie die anderen werden zu Steigbügelhaltern der Neuen Rechten. Oder sind es längst. Und, keine Entwarnung: Pirna ist überall. Schaut, welche Abgründe lauern!

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