10. Januar 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Eigentlich wollte ich meine erste Kolumne im neuen Jahr Friedrich Merz widmen, der gleich am zweiten Tag des Jahres klar machte, welch eisiger Wind mit ihm durch das Kanzlerinnenamt wehen würde. „Dieser Weg ist nicht mehr geöffnet […] Die klare Botschaft an die Flüchtlinge wie an die Schlepperorganisationen muss sein: Es ist lebensgefährlich, und es wird keinen Erfolg haben.“, ließ er, der demnächst gerne Vorsitzender der Partei mit dem C im Namen werden möchte, das Land wissen. Gemünzt war das auf jene Geflüchtete, die auf den griechischen Inseln seit Monaten im Dreck leben müssen, deren Kinder von Ratten angefressen werden und auf die, die in Serbien bei winterlichen Witterungsbedingungen im Freien übernachten müssen, also ganz konkret vom Erfrierungstod bedroht sind. Ein bisschen Hass gegen Geflüchtete züchten, das geht immer und kommt bei der eigenen Wählerschaft an, erst recht in einem Superwahljahr. Aber dann kam der 6. Januar.
Der Sturm auf das Capitol in Washington DC ist, so viel ist jetzt schon klar, ein weltgeschichtliches Ereignis, das sich in viele Erinnerungen einbrennen wird und womöglich eine neue Phase der Erosion der US-Demokratie einläuten könnte. Wie wahrscheinlich viele andere auch habe ich den Abend des 6. Januars vor allem damit zugebracht, in den sozialen Medien und auf US-Sendern live mitzuverfolgen, was passiert. Früher starrten wir in Schulbücher und ließen Schwarz-Weiß-Bilder längst gestorbener Faschisten und ihrer Verbrechen auf uns wirken, heute können wir im Stream dabei zuschauen, wie lebendige Faschisten mit roten MAGA-Mützen und Trump-Fahnen zum Bürgerkrieg gegen das verhasste System der pluralistischen Demokratie blasen – Um danach jubelnd, krakeelend und vor allem unbescholten heraus zu spazieren. Inzwischen wissen wir auch, dass dieser beispiellose Angriff noch deutlich schlimmer hätte ausfallen können, denn es sollten auch Sprengsätze detonieren und ganz offensichtlich wollten schwer bewaffnete Putschisten mehr als „nur“ symbolträchtige Bilder erzeugen, denn sie trugen große Kabelbinder mit sich, die zum Beispiel zum Fesseln von Personen benutzt werden. Einige dieser Angreifer sind übrigens zum Teil hoch dekorierte (Ex-)Militärs oder Polizist*innen.
Bilder mit einer Botschaft
Es sind Bilder, die bleiben werden, weil ihre Dimension bereits im Moment des Anschauens offensichtlich wird. Ein bärtiger Mann im „Camp Auschwitz“-Shirt. Unten steht „Work brings freedom“. Ein anderer trägt ein T-Shirt, auf dem ein Reichsadler prangt, über dem der Code „6MWE“ prangt – 6 Million wasn’t enough. 6 Millionen waren nicht genug. Neben einer grinsenden Seniorin mit Trump-Cap präsentiert ein weiterer Putschist sein Hemd. Übersetzt steht dort „Baum. Strick. Journalist. Zusammenbau erforderlich“. Es sind Bilder von einem beispiellosen Horror, denn hier geht es nicht um irgendeine Nazi-Demonstration unter Tausenden, sondern einen geplanten, angekündigten und von der Staatsgewalt nicht verhinderten offenen Putsch-Versuch auf ein herausgehobenes Symbol der US-Demokratie. Und genau das sollen diese Bilder auch bewirken: Horror. Menschen sollen es mit der Angst zu tun bekommen. Jüdinnen und Juden sollen Angst haben. Schwarze Menschen sollen Angst haben. Journalist*innen sollen sich fürchten.
In Deutschland herrscht derweil Bestürzung und Fassungslosigkeit, zumindest in weiten Teilen des demokratischen Spektrums. Für die extreme Rechte hingegen dürfte der 6. Januar vor allem ein Tag des Sieges sein, ein Tag, an dem die eigene Minderheitenposition mit exorbitanter Entschlossenheit, tödlicher Gewalt und mit Schützenhilfe durch den handlungsunwilligen Staat in das Gegenteil gedreht werden konnte. Solche Ereignisse haben eine starke Initial- und Katalysationswirkung auf extrem rechte Akteur*innen in anderen Ländern und die Gefahr von rassistischen, antisemitischen Terroranschlägen in den nächsten Wochen dürfte immens sein. Während sich Linke bereits darauf vorbereiten, diskutiert das liberal-konservative Establishment noch, ob die Gefahr in den USA nicht doch von links ausgehe und erfindet wieder einmal neue Blüten verharmlosender Begriffe für diese faschistische Bande („Entfesseltes Rabaukentum“, FAZ). Womit wir wieder bei Friedrich Merz wären, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, den Putsch mit der ihm eigenen Mischung aus Penetranz und Blödheit zu kommentieren:
„Die geistigen Urheber von Exzessen wie in den USA sitzen längst in den Parlamenten, auch bei uns. In sozialen Medien tobt sich der Hass aus gegen alles, was den Frustrierten von links und rechts widerspricht. Dann folgen Gewalttaten im realen Leben“.
Beim ersten Satz hat er natürlich recht, die geistigen Urheber der Exzesse, die Republikaner, sitzen schon lange im Parlament. Der Haupt-Urheber sitzt sogar noch im weißen Haus, allerdings jetzt ohne Twitter-Account. Beim zweiten Satz schlägt es dann aber doch Dreizehn. Die „Frustrierten von links und rechts“. Wie muss man eigentlich drauf sein, nach dem ersten faschistischen Putsch-Versuch dieser Größenordnung in den USA überhaupt etwas über Linke zu schreiben? Ich denke daran, wie er, als Kanzler einer schwarz-grünen Bundesregierung, einen ähnlichen Satz nach einem rechten Terroranschlag sagen würde. Darf dieser Mann Kanzlerin werden? Ohne an Gott zu glauben, aber Gott bewahre, nein.
Hufeisen-Weitwürfe und Däumchen drehen
Was diese Äußerung, die hier nur stellvertretend für viele neuerliche Hufeisen-Weitwürfe aus diesem Spektrum steht, aber recht eindrücklich verdeutlicht: Die Mitte ist weder in der Lage, das Problem zu analysieren, denn dann würde sie Trennschärfe zwischen faschistischen Mörderbanden, die die Demokratie abfackeln wollen, und Linken walten lassen, noch ist sie gewillt, irgendetwas am Problem zu ändern. Seit Jahrzehnten verüben Neonazis Terroranschläge, greifen Synagogen an, werfen Brandsätze auf Moscheen, erschießen Menschen, nehmen Leben, seit Jahrzehnten weist ein besorgter, lautstarker Teil der Gesellschaft auf all das hin, warnt, mahnt, analysiert, recherchiert, deckt auf, geht auf die Straße, während die einschlägigen Vertreter*innen der Mitte offenbar ernsthaft glauben, der aufkommende Faschismus ließe sich durch Hufeisen-Tweets und Däumchen drehen bändigen.
Und so wird es immer weiter gehen. Ein Teil der Gesellschaft stellt sich all dem Hass und all der Menschenverachtung mit größtmöglichem Einsatz entgegen, um nicht nur die freiheitliche Lebensweise der eigenen Community zu retten, die in ihrer Existenz von Nazis bedroht wird, sondern letztlich die der pluralistischen Demokratie insgesamt, während ein anderer Teil schweigt, wegschaut, verharmlost. Und so dreht sich das Rad der Gegenwart unaufhörlich. Ein Teil, der weint und schreit, wenn Menschen im Mittelmeer ersaufen und Nazis Menschen abknallen, ein anderer Teil, der mit den Schultern zuckt und „Aber die Linken!“ ruft. Ein Teil, der auf die Straße geht, wenn Faschisten wieder Leben genommen haben, ein Teil, der auf der Couch bleibt, denn seinen privilegierten Allerwertesten für die Zukunft letztlicher Aller hochzubekommen, das wäre ja zu viel verlangt.
Was auf dem Spiel steht
Und ja, es steht verdammt viel auf dem Spiel. Die kleinere Version des Capitol-Sturms hat hier bereits im August 2020 stattgefunden, als Coronaleugner und Nazis die Treppen des Reichstagsgebäudes erstürmt haben, auch hierzulande wachsen extrem rechte Bewegungen, verfügen sie über einen parlamentarischen Arm, der die Demokratie von innen angreift, bewaffnen sich Nazis unaufhörlich und gründen Zellen in den staatlichen Organen, um sich auf den „Endkampf“ vorzubereiten. All das ist real, all das passiert, über all das informieren engagierte Menschen tagtäglich. In den USA rufen dieselben, die das Capitol ohne Handschellen verlassen durften – welch ein weißes Privileg! – nun zum nächsten Sturm auf, wenn am 20. Januar Joe Biden als US-Präsident vereidigt werden soll. Einer der Putschisten brüllte beim Herausgehen „We will come back and it won’t be peaceful“. Das ist die Ansage.
Die Verhältnisse sind längst nicht so stabil und sicher, wie sie Vielen erscheinen. Im Gegenteil. Sie stehen auf der Kippe. Aber Uninformiertbleiben ist eben ein weißes Privileg. Und Nichtstun auch.
Foto: Robert Fietzke