09. Dezember 2020
Kolumne von Stephan Anpalagan
Die Antwort lautet 902. Die Frage lautet: “Wieviele Menschen sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken?” Die Antwort lautet 902. Neun-hundert-zwei.
Zählt man alle bestätigten Todesfälle der vergangenen 6 Jahre zusammen, kommt man auf die atemberaubende Zahl von 20.042 ertrunkenen Menschen. Zwanzig-tausend-zweiundvierzig ertrunkene Menschen.
Ich schäme mich. Ich schäme mich so sehr. Für unseren Kontinent, für unser Land, für mich. Dass die reichsten Menschen in der Geschichte der Menschheit das Leben ihrer Mitmenschen derart gering schätzen, dass sie sie auf hoher See ertrinken lassen. Nicht, weil sie nicht anders könnten, nicht weil sie keine andere Wahl hätten. Nein, die Menschen sollen (!) im Mittelmeer ertrinken, weil sich “Ertrinkenlassen” zu unserer wichtigsten migrationspolitischen Maßnahme entwickelt hat. Wer ertrinkt kann nicht einreisen. So einfach ist das.
Ich schäme mich, weil ich müde bin. Weil ich all diese Bilder nicht mehr sehen mag. Bilder von ertrunkenen Menschen, Bilder von weinenden Kindern, die ihre Mutter in den Fluten verloren haben, Bilder von weinenden Müttern, deren Säuglinge sie nur noch tot in den Armen halten können. Ich schäme mich, weil ich nicht in einem Rettungsboot sitze und mit all meiner Kraft einen Rettungsring in das dunkle Meer werfe und anschließend Menschen in mein Boot ziehe, sondern stattdessen in meiner warmen Wohnung in einen überteuerten Computer starre und diese dummen törichten nutzlosen Gedanken in die Tastatur klicke.
Dabei ist alles gesagt. Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen sollte, dass sich die Verhältnisse ändern. Welches Zauberwort würde die Menschenfeinde in den Ministerien dazu bewegen das Leben auch afrikanischer und arabischer Flüchtlinge als lebenswert zu achten? Welches Bild, welche Aktion, welche Kampagne wäre nötig? 13.000 leere Stühle vor dem Bundestag als Sinnbild für die Flüchtlinge in Moria? 497 Paar Schuhe, die das Sterben im Mittelmeer darstellen? Ein Spendenaufruf von Jan Böhmermann? 15 Minuten auf ProSieben, wo eine Kapitänin der Seenotrettung ihren übermenschlichen Einsatz mit fester Stimme versucht in Worte zu fassen? Was? WAS, VERDAMMT NOCH MAL? WAS???
Ich frage mich manchmal, ob ich derjenige bin, der an irgendeinem Punkt in der Debatte gedanklich falsch abgebogen bin. Aber wir können doch nicht ernsthaft darüber debattieren, ob wir Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Diese gottverdammte Debatte über Migrationspolitik, Asylverfahren und Flüchtlingsunterkünfte kann doch nicht darin münden, dass wir AKTIV und WILLENTLICH die Rettung von Menschen auf hoher See sabotieren.
Und dann tauchen inmitten all dieser Debatten Bilder von Flüchtlingen auf, die auf Gummimatten in das offene Meer zurückgestoßen werden. Von griechischen Behörden, auf Geheiß des europäischen Grenzschutzes. Also auch in meinem Namen. Männer, Frauen, Kinder treiben dahin auf dem offenen Meer. Ebenfalls eine migrationspolitische Maßnahme.
Ich hoffe, jeder Mensch, der diesen Geschehnissen schulterzuckend begegnet stellt sich wenigstens eine Sekunde lang vor, wie es wohl wäre, wenn beim nächsten Familienfest alle Angehörigen auf solch einer Gummimatte auf dem offenen Meer dahintreiben würden. Wenn der Sohn, die Nichte, der Onkel oder die Schwester den Halt verlören und in das eisige Meer hinabfielen.
Ich bin müde. Ich weiß nicht weiter. Mir bleibt nur mein ganzes Herz voller Dankbarkeit allen Menschen auszuschütten, die trotz aller Widrigkeiten die Seenotrettung mit Leidenschaft und Courage fortführen und hinausfahren in die dunkle See.
Auf dass kein einziger Mensch mehr ertrinken möge. Ein frommer Wunsch.
Aber immerhin ist bald Weihnachten.
Foto: Jan Ladwig