04. Oktober 2023
Kolumne von Michael Bittner
Sie kommen regelmäßig, sorgen kurz für Erstaunen, sonst aber für nichts. Nachrichten wie diese: Die fünf reichsten deutschen Milliardäre besitzen zusammengerechnet mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der gesamten Bevölkerung. Es ist für die Superreichen auch nicht allzu schwer, das zu schaffen, besitzen doch 40 Prozent der Deutschen gar keine nennenswerten Ersparnisse. Dafür sitzt das reichste Prozent der Deutschen auf mehr als einem Drittel des Volksvermögens. Selbst Menschen aus dem Mittelalter, die man in unsere Zeit brächte, fänden eine Gesellschaft mit solcher Ungleichheit absurd. Wir haben uns an diese Verhältnisse gewöhnt. Unser schwaches Hirn hält zu große Widersprüche nicht lange aus, es verdrängt sie oder erfindet sich eine beruhigende Erklärung. Irgendwann erscheint uns normal und natürlich, was uns eigentlich erschrecken und empören müsste.
Natürlich werden uns passende Erklärungen auch geliefert – von denen, die von den absurden Verhältnissen profitieren. Das sind die Vermögenden selbst, aber auch all die Menschen in Politik, Medien und Wissenschaft, die dafür bezahlt werden, Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. Sie erzählen uns: Die Reichen haben ihre Verdienste verdient, denn sie arbeiten dreißig Stunden am Tag, sind geniale Erfinder und Visionäre von übermenschlicher Kraft. Wir dürfen an solchem Lob zweifeln, nicht nur, weil es von den Gelobten gut honoriert wird. Die Wahrheit ist: Kein Mensch ist tausendmal klüger oder fleißiger als ein anderer. Manager sacken Millionen nicht ein, weil der freie Markt ihre überbordende Kompetenz belohnt, sondern weil sie die Macht haben, sich ihre eigenen Gehaltsschecks auszustellen. Zum Milliardär wird durch eigene Arbeit niemand. Das gelingt nur, indem man andere für sich arbeiten lässt und sich die Erträge von deren Arbeit aneignet. Das nennt man Kapitalismus. Eine Vermögenssteuer würde an diesem seltsamen System nichts ändern, aber seine Folgen zumindest etwas mildern. Doch nicht einmal sie lässt sich durchsetzen – der FDP und denen, die sich in der Regierung hinter ihr verstecken, sei Dank.
Selbst wer noch ans Märchen vom Millionär glaubt, der im Tellerwäscher schlummert, müsste stutzig werden, wenn er hört, dass die Hälfte der Vermögen in Deutschland verschenkt oder vererbt wird. Unsere vermeintliche Leistungsgesellschaft ist nichts anderes als ein Feudalismus des Geldes. Viele Reiche haben nie im Leben eine größere Leistung erbracht als die, vom richtigen Vater gezeugt und der richtigen Mutter geboren worden zu sein. Wer im Plattenbau mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, hat hingegen vorgeburtlich die falsche Entscheidung getroffen. Für ein wenig Gerechtigkeit könnte eine echte Erbschaftssteuer sorgen, die den unverdienten Reichtum dorthin zurückbrächte, wo er erarbeitet wurde: in die Gesellschaft. Aber die Lobbyisten der oberen Zehntausend haben genügend Argumente parat, warum das nicht gehe. Am beliebtesten: So würde das Einkommen ja unfairerweise doppelt besteuert. Aber besteuert wird nicht zum zweiten Mal der Verstorbene, der das Vermögen erworben hat, sondern zum ersten Mal der Erbe, dem es in den Schoß fällt.
Mit den Erträgen von Vermögens- und Erbschaftssteuer ließe sich vieles tun, für das jetzt angeblich kein Geld da ist. Schulen könnten saniert, Wohnungen für Einheimische wie Zuwanderer gebaut, neue Züge auf neue Strecken gesetzt werden. Noch sieht es nicht danach aus. Es gibt keine Umfrage, in der die Deutschen nicht mehrheitlich die soziale Ungerechtigkeit im Land beklagen, und keine Wahl, bei der sie nicht mehrheitlich dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt. Und die Zeitungsartikel, in denen von der absurden Vermögensungleichheit in Deutschland berichtet wird, werden weiter den Titel tragen: „Deutsche werden immer reicher“.
Foto: Amac Garbe