24. September 2021
Kolumne von Karam Atrash
Überall auf der Welt sind Menschen zu finden, die aufgrund ihrer Staatenlosigkeit sowohl vom Schutz des Staats, auf dessen Gebiet sie sich befinden, als auch vom Schutz internationaler Abkommen ausgeschlossen werden, obwohl das Recht auf eine Staatsangehörigkeit seit 1948 im Artikel 15 in der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen verankert ist.
Mit dem Verlust der Staatenlosigkeit geht ein Verlust aller Rechte einher. Hannah Arendt ist eine der ersten TheoretikerInnen, die sich mit der Thematik der Staatenlosigkeit befasste. Ihre größte und berechtigte Kritik an dem Konzept der Menschenrechte ist, dass diese Staatenlose ausschließen. Dies, weil in der Realität nur Bürgerinnen und Bürger eines Staats von ihren Menschenrechten Gebrauch machen könnten. Mit der Beraubung der Staatsangehörigkeit würde man den Menschen alle anderen Rechte berauben. Indem man die offizielle Existenz eines Menschen auf dem Papier durch Ausbürgerung oder Staatenlosigkeit vernichtet, würde man, so Arendt, ihn ohne Blut umbringen. Dieser Mord führte dazu, dass jüdische Flüchtlinge des zweiten Weltkriegs, nachdem man ihnen alles wegnahm, was ihnen vertraut war oder ihre Existenz definierte, nicht mehr wussten wer sie sind.
Heute können Genozide an das Volk der Rohingya nicht nachverfolgt werden, da die Regierung von Myanmar sie aufgrund ihrer Ethnie und Religion diskriminiert und von der Staatsbürgerschaft ausschließt. Diese Menschen sind in keinem Register aufgelistet und deshalb rechtlich nicht mal als Zahlen zu begreifen. Circa 500 000 staatenlose Menschen in Thailand können keine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, weil sie aufgrund ihrer Staatenlosigkeit von der kostenlosen medizinischen Versorgung ausgeschlossen werden und nicht in der Lage sind, die Kosten selbst zu tragen. Kinder aus nicht registrierten Ehen bei indigenen Bevölkerungsgruppen in Malaysia, haben weder Zugang zur medizinischen Versorgung, noch zur Bildung, noch zum Arbeitsmarkt und leben im Elend am Rande der Gesellschaft. Sucht man mehr, sind die Beispiele unendlich (siehe hierzu den Atlas der Staatenlosen 2020 der Rosa Luxemburg Stiftung).
Es wurden vor und nach der Erklärung der Menschenrechte unzählige Abkommen und Menschenrechtskonventionen abgeschlossen, um endlich das Problem der Staatenlosigkeit zu lösen, bei dem die Erklärung für Menschenrechte offensichtlich versagte. Wissenswert bei Abkommen oder Konventionen ist allerdings, dass diese für den jeweiligen Staat nur bindend sind, solange dieser Staat sie anerkennt. Noch dazu sollte man bezüglich der Verbindlichkeit dieser Abkommen unterscheiden, ob diese auf hard law oder soft law basieren, was wiederum große Spielräume zulässt. dennoch erscheinen bis heute die meisten internationalen Abkommen, der Macht einzelner Staaten gegenüber wirkungslos; sie können keine Entscheidung – weder auf internationaler noch auf nationaler Ebene – erzwingen, auch wenn diese Staaten das jeweilige Abkommen anerkennen.
Woran liegt das?
Ich bin der Meinung, solange kein unabhängiger, handlungsfähiger und vor allem neutraler Akteur in der internationalen politischen Sphäre existiert, der auch in der Lage wäre, Verstöße gegen Menschenrechte zu sanktionieren, solange werden Verstöße gegen Menschenrechte weiterbestehen werden. Solange dieser Akteur vermisst wird, sind internationale Instanzen unfähig zu handeln und aus meiner Sicht bloße Fassade.
Erste Entwürfe eines internationalen Gesetzes, das die Gewährung der Staatsangehörigkeit zu regeln versuchte, wurden durch ein Expertenkomitee der Vereinten Nationen 1926 erarbeitet, ein weiterer stammte aus einem Projekt der Harvard Universität im April 1929. Ziel beider Entwürfe war eine international vereinheitlichte Regelung. Dennoch wurde es auch gemäß dieser Vorschläge zum größten Teil den Staaten überlassen, die Bedingungen einer Einbürgerung selbst zu bestimmen. Die Entwürfe führten zur ersten Auseinandersetzung mit dem Thema auf internationaler Ebene auf der Hague Konferenz 1930. Doch auch hier kam kein Gesetz zustande, das Staaten rechtlich verpflichten würde, betroffenen Menschen die Staatsangehörigkeit zu garantieren.
Nach dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs hatte es die Welt mit immer mehr staatenlosen Menschen zu tun. Die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 sagt aus, dass das Recht auf Nationalität zu den Menschenrechten gehöre. Das Recht jedes Menschen auf eine Staatsangehörigkeit wurde im Artikel 15 fest verankert. Im Jahr 1961 wurde ein weiteres Abkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von den Vereinten Nationen verabschiedet. Dieses sollte jedem auf dem Rechtsgebiet eines Staats geborenen Menschen ungeachtet seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner Religion das Recht auf die Staatsangehörigkeit dieses Staates gewähren. Das Abkommen wurde damals von 25 Staaten unterzeichnet, die nicht wirklich mit dem Problem der Staatenlosigkeit auf ihrem Rechtsgebiet konfrontiert waren und es war für keinen ihnen verpflichtend. Rechtfertigt wurde das seltsamerweise damit, dass eine Entziehung der Staatsbürgerschaft gegen das Interesse der Vertragsstaaten stehe, sie also eher daran interessiert seien, neue Staatsbürger:innen zu gewinnen als zu verlieren. Auch ein Abkommen von 1954 über die Rechtsstellung von Staatenlosen hängt von den Gesetzen einzelner Staaten ab und kann eine Person nur dann als Staatsangehörigen des jeweiligen Staats definieren und ihr die damit verbundenen Rechte zuerkennen, wenn der Staat selbst die Staatsangehörigkeit anerkennt. Bis heute sind 94 Länder dem Abkommen beigetreten. Das Abkommen sollte Staatenlosen die Religionsfreiheit, den Zugang zur Arbeit und Bildung sowie den Zugang zu Gerichten sichern. Trotzdem geht man laut “Atlas der Staatenlosen” noch im Jahr 2020 von 10 Millionen Staatenlosen weltweit aus.
Der größte Schwachpunkt der meisten Abkommen ist, dass das Recht auf Staatsangehörigkeit nicht als ein Recht jedes Individuum beschrieben wird, sondern es als Pflicht der Staaten definiert wird, den betroffenen Menschen dieses Recht zu gewähren. Noch dazu sind viele durch die Abkommen anerkannte Rechte an die Aufenthaltsbedingungen geknüpft, die von den jeweiligen Staaten selbst bestimmt werden. Erkennt der Staat also den Aufenthalt eines Individuums auf ihrem Rechtsgebiet nicht als legitim an, wären dessen Rechte obsolet. Der Menschen existiert dann rechtlich nicht mehr.
Eine dieser Bedingungen ist eine vom Staat anerkannte „Integration“ der Betroffenen. Aber wie oft handelt es sich bei der anzustrebenden Integration um eine Diskriminierung? Japan soll zum Beispiel von Individuen mit koreanischer Abstammung verlangt haben, dass sie ihre Namen verändern, um sie als japanische Staatsbürger anzuerkennen. Korea verweigerte jedem Individuum mit chinesischer Abstammung die koreanische Staatsangehörigkeit. Panama übte eine Diskriminierung gegen Menschen mit körperlicher oder mentaler Behinderung und weigerte sich diese als Staatsbürger anzuerkennen. Kuwait diskriminiert Menschen auf der Basis von Religion und gewährt nur Muslimen die Staatsbürgerschaft. Auch Israel übt eine Diskriminierung auf der Basis von Religion und gewährt Juden eine sofortige Einbürgerung während Angehörige anderer Religion bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Spanien gewährt Individuen, die eine iberische Abstammung nachweisen können seine Staatsangehörigkeit nach nur zwei Jahren, während Individuen anderer Abstammung zehn Jahre Aufenthalt nachweisen müssen. Auch Deutschland mit ihrer sofortigen Gewährung der deutschen Staatsangehörigkeit für Spätaussiedler präferiert diese vor türkisch-stämmigen, die in Deutschland geboren sind, obwohl Spätaussiedler weder auf deutschem Boden geboren sind, noch die deutsche Sprache beherrschen. Solche Diskriminierungen wurden absurderweise von dem Inter-Amerikanischen Gericht für Menschenrechte als eine “Präferenz“ bezeichnet. Dieses äußerte in einem ihrer Berichte:
“States Parties can give more favorable treatment to nationals of certain other States” (*1)
Sogar Diktatoren tendieren dazu, Menschenrechtskonventionen anzuerkennen und somit freiwillig die Gefahr einzugehen, bei Verstößen gegen die Konvention verurteilt zu werden. Offensichtlich haben sie aber sowieso keinerlei Konsequenzen zu befürchten, denn in der Realität gibt es tatsächlich keine. Beth Simmons (2011) so wie andere Politikwissenschaftler:innen interpretieren dies als eine Strategie von Regierungen, die diese gegenüber ihren nationalen Oppositionen verwenden, um den eigenen Ruf zu verbessern. Allein diese Beobachtung sollte eigentlich ein ausreichender Beweis dafür sein, dass Konventionen und Abkommen vollkommen machtlos sind und sogar als Instrumente von den Staaten ausgenutzt werden können, um andere Ziele zu erreichen.
Liest man also das Kleingedruckte, stellt man fest, dass die Spielregeln von Gewinnern für Gewinner geschrieben werden. Man kann das am Beispiel einer internationalen Instanz wie der Weltbank beobachten. Hier haben die größten Anteilseigener die stärkste Stimme im Board of Directors und üben somit den größten Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen aus, die die ganze Welt betreffen. Diese sind Frankreich, Deutschland, Japan, die UK und die USA. Es ist also Zeit, zuzugeben, dass das internationale Völkerrecht sowie internationale Instanzen nichts anderes als Symbole darstellen. Die Spielregeln durften schon immer von den Staaten selbst bestimmt werden. Dabei darf jeder Staat in Abhängigkeit von seiner Macht und seinem internationalen Einfluss entsprechend mehr oder weniger mitbestimmen und die Themen auf die Agenda setzen, die für ihn von Relevanz sind. Auch wenn uns unsere heutige Welt aufgrund technologischer und rechtlicher Entwicklungen als „fortgeschritten“ erscheinen mag, leben wir immer noch in einer Welt, in der Menschen der Nation, auf deren Rechtsgebieten sie sich befinden, in jeder Hinsicht ausgeliefert sind.
Quellen