14. Januar 2021
Kolumne von Felix M. Steiner
In den letzten Monaten ist das Thema Geschichtsrevisionismus wieder verstärkt in die Öffentlichkeit getreten. Corona-Leugner tragen „Judensterne“, um sich mit den Verfolgten des Nationalsozialismus gleichzusetzen, ein junges Mädchen vergleicht sich mit Anne Frank und eine erwachsene Frau fühlt sich auf einer öffentlichen Bühne wie Sophie Scholl. Offenbar haben diese Menschen nichts aus Geschichte gelernt. Ich glaube ohnehin, dass wir das nicht können. Aus Geschichte kann man nichts lernen. Aus Geschichten schon. Die Geschichten von Menschen sind ein Zugang, wenn man dies zulässt. Sie können zu einem kritischen Geschichtsbewusstsein führen und uns verdeutlichen, wie Menschen entwürdigt wurden und werden. Man muss nur zuhören. Die aktuelle Bezugnahme auf und Identifikation mit NS-Opfern ist schlicht ekelhaft und hat selbstredend nichts mit einem kritischen Geschichtsbewusstsein zu tun.
Ich möchte heute nur wenige Worte schreiben und euch dann einen Menschen vorstellen, den ich viele Jahre begleiten durfte. Seine Geschichte, seine Person und seine ganze Familie haben mich sehr beeindruckt und geprägt. Leider ist Avraham vor wenigen Jahren verstorben. Das hat mich sehr getroffen. Mit der Erlaubnis seiner Familie möchte ich Euch seine Geschichte erzählen. Warum? Weil ich glaube, dass man von Avraham viel über Menschlichkeit und Würde lernen kann und muss, auch für unsere heutige Zeit. Durch ihn habe ich verstanden, was für eine Gesellschaft ich mir wünsche und gegen welche Ideologien es entschieden zu kämpfen gilt. Dafür bin ich ihm immer noch sehr dankbar, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen ihre Geschichten so teilen. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Avraham sie in einer Rede vortrug. Es war der 12. April 2010…
„Mein Name ist Avraham Lavi. Ich wurde 1931 als Sohn jüdischer Eltern in Vásárosnamény in Ungarn geboren. 1944 hatten meine Eltern zwei Jungen und zwei kleine Mädchen. Wir waren sehr glückliche Kinder mit aufrichtigen Eltern. Mein Vater war ein ausgebildeter Schmied und Schweißer. Er besaß seine eigene Werkstatt. Mein Bruder, meine Schwestern und ich besuchten die Schule. Das Leben war gut, bis die deutsche Wehrmacht Ungarn im März 1944 besetzte.
Alles ging nun sehr schnell. Alle Juden wurden aufgefordert einen gelben Stern mit dem Wort „JUDE“ in der Mitte zu tragen. Juden war es verboten, die Schule zu besuchen. Schilder mit neuen Bestimmungen wurden an den Straßenmasten angebracht und wir mussten all unser Gold, Silber und sogar Kupfer abgeben. Ich war sehr traurig, dass ich meine Doxa-Uhr, die ich von meinen Eltern zur Bar Mitzvah an meinem 13. Geburtstag bekommen hatte, abgeben musste. Ich ahnte nicht, dass noch sehr viel Schlimmeres kommen sollte.
Gerüchte kursierten, dass wir umgesiedelt würden. Meine Eltern waren sehr besorgt. Uns wurde gesagt, dass wir nur wenig Gepäck mitnehmen und alles andere zurücklassen sollten. Wir wurden im Hof der Synagoge versammelt und auf LKWs verladen. Unsere ungarischen nichtjüdischen Nachbarn applaudierten, als wir abtransportiert wurden, einige riefen: „Dreckige Juden, bravo!“ Wir wurden 30 km entfernt in ein Ghetto in Berehovo gefahren, welches heute in der Ukraine liegt. Das Ghetto war eine alte Backsteinfabrik ohne Wände. Familien wurden zusammengepfercht ohne Privatsphäre. In nicht einmal 24 Stunden wurde unser Leben auf den Kopf gestellt.
Zwei Tage später wurden wir in Viehwaggons gesteckt, ohne Essen, ohne Wasser und ohne Toiletten. Wir kamen schließlich im KZ Auschwitz-Birkenau im deutsch besetzten Polen an. Wir mussten uns schnell für die Selektion in Reihen aufstellen, eine Reihe für Männer und eine andere für Frauen und Kinder. Meine Eltern versuchten verzweifelt zu entscheiden, ob ich mit meiner Mutter und meinen zwei Schwestern gehen sollte oder mit meinem Vater und meinem älteren Bruder. Ein jüdischer Arbeiter warnte uns, dass ich sagen sollte, dass ich älter bin. Auf einen Podest stehend, sagte uns ein SS-Offizier, in welcher Reihe wir zu stehen haben. Er fragte mich, wie alt ich wäre. Ich log und antwortete, dass ich 16 sei. Er sagte, ich solle mich der Männerreihe anschließen. Schnell ging ich zum Vater und Bruder. Meine Mutter und meine zwei kleinen Schwestern sahen wir nie wieder. Am gleichen Tag deutete ein Häftling auf die Schornsteine im Lager und sagte meinem Vater, dass meine Mutter und meine Schwestern zu Tode vergast wurden. Mein Vater erzählte es uns. Es brach uns die Herzen.
Nach vier Tagen ohne Essen und Wasser wurden wir in einen riesigen Raum gebracht und aufgefordert, uns nackt auszuziehen. Wir wurden rasiert, geduscht und tätowiert. Wir waren extrem durstig, aber dort waren Schilder, die anzeigten, dass man das Wasser nicht trinken dürfe. Die SS-Offiziere fragten, ob jemand von uns einen Beruf erlernt habe. Mein Vater trat aus der Reihe und sagte ihnen, dass er und seine Söhne Schlosser und Schmiede seien. Wir wurden zum benachbarten Lager Monowitz gebracht, 2 km von der IG-Farben-Fabrik (Buna) entfernt. Für neun Monate arbeiteten wir in der Fabrik wie Sklaven mit sehr wenig Essen. Es war eiskalt, und wir schliefen auf Holzpritschen mit dünnen Decken. Jeden Sonntag standen wir für Stunden nackt für die Selektion der SS-Ärzte. Diejenigen, die erschöpft und kraftlos waren, wurden weggebracht und nie wiedergesehen. Im Januar 1945, als die russische Armee die deutschen Truppen nach Westen zurückdrängte, versuchten die Deutschen das Lager zu evakuieren, doch es gab nicht genug Waggons für alle Häftlinge. Wir wurden gezwungen, 60 km nach Gleiwitz zu marschieren, zwei Tage und zwei Nächte ohne Halt zum Ausruhen und Essen. Wir marschierten durch den gefrorenen Schnee mit rutschigen Holzschuhen. Die, die hinfielen, wurden erschossen. Die ganze Nacht über hörten wir, wie Menschen erschossen wurden. In Gleiwitz angekommen, pferchten sie uns in Viehwaggons ohne Dach. Wir waren 12 Tage ohne Essen und Wasser im Zug unterwegs, bis uns bei einer Bahnstation in der Tschechoslowakei einige sehr mutige Menschen ein paar Brotlaibe zuwarfen. Die Bedingungen in den Viehwaggons führten dazu, dass einige Häftlinge verrückt wurden. Zwei Brüder griffen mich an und bissen in meine Beine wie hungrige Wölfe. Die anderen Häftlinge rissen sie von mir weg. Zu dem Zeitpunkt erreichten wir letztlich das Lager Boelcke-Kaserne in Nordhausen. Zwei Drittel von uns waren tot und wurden aus dem Zug geworfen.
In der Boelcke-Kaserne wurde ich sofort von meinem Vater und Bruder getrennt. Glücklicherweise wurde ich dafür bestimmt, Kartoffeln in einer Küche zu schälen, die Deutsche bediente. Ich arbeitete drei Monate in der Küche – bis April 1945, als die Alliierten begannen, die Kaserne zu bombardieren. Während des Luftangriffs war Chaos im Lager. Offiziere und Häftlinge rannten um ihr Leben. Der elektrisch geladene Stacheldrahtzaun und das Eingangstor waren zerstört. Ich rannte um mein Leben, um den Bomben zu entkommen. Ich versteckte mich in einem Krater, der noch von einer Bombe rauchte, die Sekunden zuvor explodiert war. Ich lag dort, meinen Kopf geduckt, bis ich die Flugzeuge nicht mehr hörte.
Wie durch ein Wunder überlebte ich. Ich war zusammen mit meinem jungen Freund, der mit mir in der Küche gearbeitet hatte. Wir sahen tote deutsche Soldaten mit ihren Waffen neben sich liegend, aber wir waren zu geschockt, um hinauszugehen und ihre Waffen zu nehmen. Nicht wissend, was wir als nächstes tun sollten, versuchten wir Anschluss an eine Gruppe älterer Häftlinge, welche flüchteten, zu finden. Sie weigerten sich, uns mit ihnen gehen zu lassen, weil wir zu jung seien, um zu überleben. Wir folgten ihnen mit einigem Abstand. Sie versteckten sich unter einem Baum in einem benachbarten Wald, somit suchten wir uns einen Baum 30 Meter entfernt von ihnen.
Zwei Tage später hörten wir laute deutsche Stimmen von der nahen Straße, die ankündigten: „Jeder, der sich im Wald versteckt, muss sofort herauskommen. Wenn wir euch finden, werden wir euch erschießen.“ Mein Freund und ich hatten Angst und ergaben uns. Die Offiziere fragten uns, ob wir andere geflüchtete Häftlinge gesehen hätten. Wir sagten Nein. Wir schlossen uns den 12 anderen Häftlingen an, die wieder gefasst worden waren. Meinen Vater und meinen Bruder habe ich nicht mehr gesehen.
Wir marschierten nach Norden, von den amerikanischen Bodentruppen weg. Wir mussten zwei Wagen mit der Ausrüstung der deutschen Soldaten ziehen. Die Soldaten versuchten, uns in ein anderes Lager zu bringen. Aber kein anderes Lager wollte uns aufnehmen. Die Soldaten befahlen den ortsansässigen Bauern, uns in ihren Scheunen schlafen zu lassen und uns Kartoffeln zu geben. Jeden Tag drohten die Soldaten, uns umzubringen.
Zehn Tage später marschierten wir noch immer. Dann wurden wir in der Nähe der Stadt Güsten bei Bernburg von amerikanischen Soldaten befreit. Wir waren gerettet. Die Amerikaner nahmen die deutschen Soldaten fest und gaben uns einen Raum in einer Schule mit Matratzen, Bettdecken, Essen und Kleidung. Sie rieten uns, langsam zu essen, weil unsere skelettartigen Körper nicht in der Lage waren, normale Portionen aufzunehmen. Sie erzählten uns, dass es nicht sicher für uns wäre fortzugehen, da immer noch russische und deutsche Soldaten unterwegs waren. Zehn Tage später informierten uns die Amerikaner, dass der Krieg vorbei war und es für uns nun sicher sei, zu gehen.
Die amerikanischen Soldaten waren sehr freundlich zu mir. Sie boten mir an, mich mit nach Amerika zu nehmen. Aber ich wollte nach Ungarn zurück, um meine Familie zu suchen. Mein Vater, mein Bruder und ich hatten vereinbart, dass, wenn wir getrennt werden sollten, wir nach Kriegsende wieder zurück in unsere Heimatstadt in Ungarn gehen, um uns wiederzufinden. Ich hatte die beiden in der Boelcke-Kaserne nur ein einziges Mal gesehen, als wir an einem Sonntag wie jede Woche unsere Wäsche wuschen. Da hatten sie mir erzählt, dass sie als Klempner arbeiteten. Ich hatte stets die Hoffnung, dass sie überlebt hatten, auch wenn sie vielleicht in den Stollen oder durch die Bomben getötet worden waren.
Die Amerikaner brachten uns in die russische Zone. Von dort aus trampten wir nach Hause. Als ich in meiner Heimatstadt ankam, ging ich zu unserem Haus, aber es war an eine neue Familie vermietet. Der Eigentümer sagte mir, dass unser persönlicher Besitz in der Synagoge war. Alles, was ich dort fand, waren einige Fotos von unserer Familie. Ich hatte keinen Ort zum Schlafen, bis ich auf einen Kollegen meines Vaters stieß, der mich einlud, bei ihm unterzukommen. Ich wartete und wartete auf die Rückkehr meiner Familie. Aber niemand kam. Ich war 14 Jahre alt und niedergeschlagen.
Dieser Ort Dora wurde die letzte Ruhestätte meines Vaters und Bruders, ein Ort zum Wiederkehren, Trauern und Erinnern.
Schließlich brachte mich eine Flüchtlingsorganisation nach Israel. Die Reise dauerte Monate, bis ich in Haifa in Israel ankam. Ich wurde zum Militär eingezogen.“
Kein Vergeben, kein Vergessen!
Foto: Felix M. Steiner