01. Februar 2022
Kolumne von Michael Bittner
Die deutschen Parteien haben sich fast einstimmig darauf geeinigt, dass Frank-Walter Steinmeier noch eine Runde lang als Bundespräsident Flatterbänder durchschneiden und Sonntagsreden halten darf. Seine Leistung bei der gesellschaftlichen Versöhnung wird gepriesen, allerdings nur von denen, die sich nicht mehr daran erinnern, dass er einst zu den Erfindern der Hartz-IV-Infamie gehörte. Er wird nicht nur von den Regierungsparteien gewählt, sondern auch von CDU und CSU, weil man eine gesunde Demokratie bekanntlich daran erkennt, dass bei Wahlen alle für denselben stimmen und keine Alternativen angeboten werden. Die nationale Eintracht wird leider von der Linkspartei gestört, die den Armenarzt Gerhard Trabert aufgestellt hat. Die größte Aufmerksamkeit in den Medien aber erntete nicht er, sondern – wie schon so oft zuvor – eine Provokation der AfD.
Der Kandidat der Nazi-Partei heißt Max Otte und ist im Doppelberuf Finanzspekulant und Krisenprophet. Für Wirbel sorgte, dass Otte bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur noch der CDU angehörte. Er amtierte als Vorsitzender der Werte-Union, also jener rechtsradikalen Sekte, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die CDU wieder „konservativ“ zu machen. Deren Mitglieder schworen stets beim Heiligen Geist, sie seien zwar patriotisch und wertverbunden, hätten aber mit der AfD nichts zu tun. Nun ja: Pustekuchen. Otte ist inzwischen aus der CDU geflogen und darf auch nicht mehr bei der Werte-Union den Chef spielen. Überhaupt empört man sich nun allgemein über den rechten Spinner, der es wagt, Oberdeutscher werden zu wollen. Aber wie immer, wenn in Deutschland Empörung angesagt ist, spielt auch die Heuchelei fleißig mit.
Wurde nicht eben dieser Max Otte noch vor wenigen Jahren als Finanzexperte von den großen Blättern des Landes interviewt? Saß er nicht gemütlich in diversen Talkshows? Durfte er nicht allerorten vor dem „Weltsystemcrash“ warnen und nebenbei für seine eigenen, krisensicheren Anlagefonds werben? Nein, Max Otte ist gar nicht der abseitige Sonderling, den nun alle in ihm zu sehen behaupten. Ist seine Haltung in der „Flüchtlingskrise“, die ihn zuerst in die Nähe der AfD brachte, nicht inzwischen weithin Staatsdoktrin? Tummelt er sich nicht mitten im Mainstream, wenn er die „Wahrung nationaler Souveränität“ als Heilmittel gegen den angeblich herrschenden „Globalismus“ ausruft? Als noch der deutsche „Mittelstand“ das Sagen hatte, ging’s uns allen gut, so weiß Otte, der dementsprechend für das erfolgreiche „deutsche Modell von 1870 bis 1939“ wirbt – man beachte die zweite Jahreszahl. Solche Nostalgie ist in Deutschland leider nicht nur bei Reichsbürgern verbreitet.
Aber ist das nicht doch leicht irre – ein Finanzspekulant, der den „Finanzkapitalismus“ anprangert? Wie man’s nimmt: Max Otte ist sicher nicht verdrehter als jene jungen Leute, die sich irgendwie „links“ fühlen und abends mit der Trading-App an der Börse zocken. Und die auf Erderwärmung und Menschenrechte auch mal pfeifen, wenn es darum geht, Bitcoins in Asien „schürfen“ zu lassen. Hätten die Deutschen den Mut zur Ehrlichkeit, müssten sie zugeben: Dieser Max Otte wäre eigentlich ein ganz guter Repräsentant ihrer Lügen, Macken und Widersprüche. Auch wenn er wohl keine Mehrheit finden wird: Die Deutschen hätten ihn, gerecht betrachtet, schon ein bisschen verdient.
Foto: Amac Garbe