01. August 2021
Kolumne von Ruprecht Polenz
Es hätte ein Grund zum Feiern sein können, dass die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) am 28. Juli 70 Jahre alt geworden ist. Denn 1951 hatten die Unterzeichnerstaaten die Konsequenz aus dem Flüchtlingselend des 2. Weltkriegs ziehen wollen. In Zukunft sollten sich ähnliche Tragödien wie die Zurückweisung Schutzsuchender an den Grenzen nicht wiederholen.
In Artikel 33 der GFK heißt es deshalb unmissverständlich:
Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.
Inzwischen sind 145 Staaten dieser Konvention beigetreten. Sie haben sich dadurch verpflichtet, sich gegenüber Flüchtlingen genau so zu verhalten. Aber die allermeisten von ihnen halten sich nicht (mehr) an ihre Selbstverpflichtung. Die Genfer Flüchtlingskonvention, die Magna Charta der Menschlichkeit, ist weitgehend außer Kraft gesetzt worden.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht von derzeit 80 Millionen Geflüchteten weltweit. Die meisten von ihnen haben in der Türkei Zuflucht gefunden (3,652 Mio). Deutschland hat 1,211 Mio Geflüchtete aufgenommen und liegt damit auf Platz 5 von 195 Staaten dieser Welt.
Der Migrationsexperte und Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) Gerald Knaus macht darauf aufmerksam, dass es derzeit auf der Welt kaum noch jemandem gelingt, Grenzen zu überschreiten, um Schutz zu finden. Die meisten der vom UNHCR genannten 80 Millionen Menschen sind schon vor Jahrzehnten geflohen. Die größte Zahl von ihnen befindet sich als Binnenflüchtlinge im eigenen Land, das sie nicht verlassen können.
Weil das nicht näher erklärt wird, führt die vom UNHCR genannte Zahl zu einer Debatte, als wären 40 oder 80 Millionen Menschen auf der Flucht.
Diese Angst vor einer Massenmigration von Flüchtlingen, sagt Gerald Knaus @rumeliobserver, ist vollkommen irrational. Aber sie werde leider von vielen Populisten in Amerika, Europa und anderswo dazu verwendet, „den Festungen das Wort zu reden und zu sagen, nur mit Brutalität müssen wir auch kleine Zahlen, um die es wirklich geht, mit aller Kraft daran hindern, unsere Länder zu erreichen.“
Und so machen immer mehr Länder die Schotten dicht. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz erklärt es zum politischen Ziel, dass möglichst kein Asylbewerber mehr ins Land kommt. Er nimmt sich Australien zum Vorbild, das Geflüchtete in Internierungslagern auf der kleinen Pazifikinsel Nauru und der zu Papua-Neuguinea gehörenden Inseln Manus festhält. Die Zustände dort sind nach dem Urteil von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen menschenunwürdig. Aus Absicht. Denn Menschen sollen abgeschreckt werden, sich über das Meer nach Australien auf den Weg zu machen. Für eine ähnliche Politik der EU brachte Kurz 2016 die griechische Insel Lesbos ins Gespräch. Unterstützung für diese Abschreckung von Geflüchteten bekommt Kurz von Ungarns Ministerpräsident Victor Orban.
Von einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die den humanitären Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, ist die EU deshalb weit entfernt. Und es sterben weiter Frauen, Männer und Kinder auf dem Weg über das Mittelmeer.
Die EU hat zwar seit 2020 ein Resettlement-Programm, um zu gewährleisten, dass 30.000 Menschen, die Schutz brauchen, die EU auf sicherem und legalem Weg erreichen können, ohne bei einer Flucht über das Mittelmeer ihr Leben zu riskieren. Deutschland stellte dafür 5.500 Plätze für besonders schutzbedürftige Geflüchtete zur Verfügung. Aufgrund der Covid 19-Pandemie konnten allerdings nicht alle geplanten Aufnahmen umgesetzt werden.
Eine Aufstockung des Resettlement-Programms wäre das richtige Signal zum 70. Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention.
Unter Resettlement versteht man die dauerhafte Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus einem Land, in dem sie bereits als Geflüchtete leben, durch einen zur Aufnahme bereiten Drittstaat. Dieser Staat gewährt den Betroffenen eine direkte und sichere Einreise und einen umfassenden Flüchtlingsschutz.
Die Flüchtlinge werden dabei in einem komplexen Verfahren unter Beteiligung des UNHCR ausgewählt. Wichtig dabei: Resettlement ist kein Ersatz für reguläre Asylverfahren, sondern nur eine Ergänzung zum Schutz besonders vulnerabler Flüchtlinge.
Wenn Deutschland jedes Jahr 40.000 Flüchtlinge in einem Resettlement-Programm aufnehmen würde“, so Gerald Knaus, „dann wären das sehr viel weniger Menschen, als in den letzten Jahren spontan kamen“, so Knaus. Wenn es der deutschen Bundesregierung dann noch gelänge, Frankreich und andere Europäer zu überzeugen, wäre das zwar noch keine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU. Aber zusammen mit Kanada und den Vereinigten Staaten unter Präsident Biden wäre man schnell bei 250.000 bis 300.000 Flüchtlingen, die jedes Jahr, ohne ihr Leben zu riskieren, Schutz erhielten, ist Knaus überzeugt.
Das wäre, zum 70. Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention, ein gutes Signal. Es wäre auch ein Zeichen an die Nachbarländer Afghanistans, dass man sie nicht allein lassen will, wenn demnächst die Menschen auf der Flucht vor den Taliban bei ihnen Schutz suchen.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP