Kunst im Staatsdienst

Kunst im Staatsdienst

06. Juni 2023

Kolumne von Michael Bittner

Zugegeben: Es ist nicht ganz fair, einen Politiker stellvertretend für viele zu tadeln. Er ist keine Ausnahme, sondern nur ein Beispiel. Auch mag es unfair sein, diesem Mann Worte vorzuwerfen, die gar nicht seine eigenen sind, obwohl er sie gesagt hat. Politikerinnen und Politiker, die bedenkenlos Phrasen nachsprechen, die ihnen von ihren Vermarktungsassistenten aufgeschrieben wurden, gibt’s zuhauf. Aber Phrasen sind ein Elend, unter dem wir leiden. Darum darf man sich auch beschweren, selbst wenn dadurch einer stellvertretend für viele getroffen wird, der auch nicht schlimmer ist als alle anderen.

Dem neuen, epochalen Bündnis der Volksparteien CDU und SPD in unserer Bundeshauptstadt Berlin verdanken wir auch einen neuen „Senator für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt“: den ehemaligen Rocksänger und heutigen Popmusikmanager Joe Chialo. Er war früher bei den Grünen, heute ist er in der CDU. Zu seinem Amtsantritt verkündete er, von nun an für „ein starkes Wir-Gefühl“ zuständig zu sein, und äußerte dabei auch folgende Behauptung: „Kultur ist der Kitt, der uns als Gesellschaft zusammenhält.“ Das ist so einer von den Sätzen, wie sie im politischen und medialen Routinebetrieb täglich tausendfach produziert werden. Sie rutschen aus den Mündern und rauschen widerstandslos durch die Köpfe. Der Schaden, den diese Worte dabei anrichten, bleibt unbemerkt, wenn man sich nicht ausnahmsweise einmal die Mühe macht, sie beim Wort zu nehmen.
Wie versteht einer Kultur, der davon ausgeht, sie sei kleistrige Spachtelmasse, geeignet, hässliche Risse zu verbergen und peinliche Lücken zu füllen? Herzlichen Glückwunsch, ihr Leute, die ihr euch der Musik oder der Dichtung widmet, der Malerei oder dem Film, der Komik oder dem Tanz – ihr steht gesellschaftlich auf einer Stufe mit dem Bauschaum! Wo sich in unserer Gesellschaft Abgründe auftun, wo Spaltung herrscht, wo Brüche sich zeigen – da sollt ihr überdecken und zusammenleimen! Am besten in Reimen! Kultur hat den Zweck, unseren von Ungleichheit zerklüfteten Staat mit einer schönen, glatten Oberfläche zu versehen, und die gesellschaftlichen Gruppen, die eigentlich keine Verbindung mehr zueinander haben, notdürftig zusammenzukleben. So denkt Joe Chialo, auch wenn er davon natürlich nichts weiß.

Er ist nicht der Einzige. Aus Politik und Medien erklingt unablässig der Klageruf, unsere Gesellschaft sei „tief gespalten“ und mehr „Zusammenhalt“ müsse dringend hergestellt werden. Tatsächlich gab es selten eine Zeit, in der die regierenden Parteien und die Leitmedien einander so ähnlich gewesen sind wie heute, so ohne Mut und Wut, so kreuzbrav und harmoniesüchtig. Radikale Gegenentwürfe kommen nicht zu Wort, radikaler Protest nicht auf die Straße. Es gibt tatsächlich Spaltungen in der Gesellschaft, die groß sind und wachsen: die Ungleichheit zwischen Vermögenden und Besitzlosen, zwischen Stadt und Land, zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Aber die Leute, die der Kultur die Aufgabe zuweisen, das Eiapopeia der Versöhnung anzustimmen, wollen an der materiellen Ungleichheit gar nichts ändern, sondern nur dafür sorgen, dass alle vor ihr kapitulieren. Sie sind es auch, die inzwischen wissen, dass wir es mit der Liebe zu Geflüchteten doch ein wenig übertrieben haben. Damit alle Deutschen einander wieder an die Brust drücken können, müssen die Ausländer leider draußen bleiben.

Kunst kann der Blumenstrauß sein, der das Buffet beim Festbankett der Mächtigen dekoriert, aber auch der Eindringling, der ihnen in die Suppe spuckt. Künstlerinnen und Künstler nennen wir Leute, die mit ihren Tätigkeiten keine unmittelbar praktischen Zwecke verfolgen müssen. Diese besondere Freiheit könnten sie nutzen, um Ungesagtes zu sagen, auch wenn das manchen wehtut, Widersprüche nicht zuzukleistern, sondern aufzudecken, oder Bilder einer ganz anderen Gesellschaft zu entwerfen. Aber machen wir uns keine falschen Hoffnungen: Das Einverstandensein wird deutlich besser bezahlt. In Zukunft dann von Joe Chialo.

Foto: Amac Garbe

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