Gezeitenwende

Gezeitenwende

26. Juni 2022

Kolumne von Robert Fietzke

Als Olaf Scholz wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Bundestag von einer „Zeitenwende“ sprach, war das vor allem der Versuch, die deutsche Bevölkerung im Angesichts der gewachsenen Bedrohung aus dem Osten auf eine weitere Militarisierung der Politik einzuschwören. Es brauche, zusätzlich zu den 56 Milliarden € Verteidigungshaushalt, womit dieser schon jetzt zu den größten der Welt zählt, weitere 100 Milliarden € für die Aufrüstung in Form eines „Sondervermögens“. Hier sei jetzt eine „nationale Kraftanstrengung“ von Nöten.

Die Formel von der „nationalen Kraftanstrengung“ wird sehr gerne von Spitzenpolitiker*innen verwendet, wenn ihnen etwas besonders wichtig ist. Wenn etwas von solch großer Wichtigkeit ist, dass die Bevölkerung mit Eifer und Tatendrang mitmachen soll. Als Scholz‘ Vorgängerin diese Phrase das letzte Mal in den Mund nahm, ging es übrigens um „eine nationale Kraftanstrengung bei Abschiebungen“ (2017). Abschiebungen, Aufrüstung, Einigkeit und Recht und Freiheit.

Jedenfalls präzisierte Scholz in seiner Rede, was mit diesem „Sondervermögen“ gemacht werden soll: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es. Und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa“. Flugzeuge, die fliegen und Schiffe, die in See stechen – Diese Zeitenwende lässt Deutschland völlig neue Wege gehen.

Eine Zeitenwende oder vielmehr eine Gezeitenwende mit sehr viel Ebbe auf dem Konto und im Portemonnaie und einer Flut an Hiobsbotschaften erleben gerade auch breite Bevölkerungsschichten. Die Rekordinflation von 8,1% stürzt immer mehr Menschen in echte Armut. Bei Lebensmitteln betragen die Teuerungsraten im Schnitt sogar 11%. Die Preise bestimmter Erzeugnisse des täglichen Bedarfs wie Speiseöl oder Butter haben sich zum Teil verdrei- oder vervierfacht. Das führt schon jetzt dazu, dass jede*r sechste Mensch in Deutschland auf regelmäßige Mahlzeiten verzichtet. Gleichzeitig steigen die Energiekosten in immer schwindelerregendere Höhen. Expert*innen gehen von einer Vervierfachung der nächsten Gas-Rechnung aus. Drastisch steigende Mieten waren auch schon vor der Entfesselung des russischen Angriffskriegs eine der Hauptursachen für angespanntere Budgets bei vielen Menschen. Und sie steigen weiter. In vielen Metropolen des Landes ist es für Familien mit normalem Einkommen kaum noch möglich, bezahlbaren und ausreichend großen Wohnraum zu finden.

Das Leben in Deutschland wird also teurer, an allen Ecken und Enden und auf allen Ebenen. Fast jede*r spürt das am eigenen Leib. Daran können auch die mickrigen Entlastungspakete wenig ändern, zumal sie zum Teil wesentliche Zielgruppen, die am meisten von Armut bedroht sind, ausklammern. Sie verpuffen und werden von der Inflation gefressen, noch während sie besprochen, diskutiert und beschlossen werden. Währenddessen wachsen die Vermögen der Reichen, steigen die Gewinne der großen Supermarkt-Ketten und klingeln die Kassen des Mineralöl-Kartells.

Nur, um das nochmal klarzukriegen: In einem der reichsten Länder der Erde verzichtet schon jetzt jeder sechste Mensch auf Mahlzeiten, um noch über die Runden kommen zu können. Einige „Tafeln“ verhängen bereits Aufnahmestopps, weil sie den Ansturm nicht mehr bewältigen können. Leider wird die Bundesregierung für all diese Menschen niemals ein Milliarden schweres Sondervermögen aufnehmen. Eine „nationale Kraftanstrengung zur Beseitigung der Armut und des Notstands“ ist auch nicht zu erwarten.

Stattdessen erschallen schon jetzt Rufe aus der Kapital-Fraktion, die wie Echos aus den 2000ern klingen: Wir brauchen eine 42-Stunden-Woche, um den Fachkräftemangel auszugleichen (BDI-Chef Russwurm), wir werden ärmer werden und uns auf harte Zeiten einstellen müssen (Wirtschaftsminister Habeck), wir müssen mehr Überstunden machen zur Sicherung unseres Wohlstandes (Finanzminister Lindner).

Das ist keine Zeitenwende. Das ist eine Zeitschleife. Die Frage ist, wann wir endlich aus ihr ausbrechen.

Foto: Robert Fietzke

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