Gesellschaft des emotionalen Dauerausnahmezustands

Gesellschaft des emotionalen Dauerausnahmezustands 

14. Februar 2021

Kolumne von Robert Fietzke

Manchmal reibe ich mir die Augen, wenn ich sehe, was passiert, weil die Augen nicht glauben können, dass passiert, was passiert. Der Verstand ist schon weiter, denn die Welt ist keine heile Welt. Leider. Denn Menschen machen sie kaputt. Tagtäglich. Und andere Menschen müssen sie dann wieder aufbauen. Immer wieder.

Manchmal schüttle ich den Kopf, um laut „Nein“ zu sagen, aber vor allem, um abzuschütteln, was ich da sehe. All die schlechten Nachrichten, die grausamen Bilder, vom Krieg, von Bomben zerfetzte Kinderkörper. Menschen, die kein anderes Heil finden, als ihres in der Flucht zu suchen, auf der Suche nach Sicherheit und Ruhe, einem Dach über dem Kopf. Einem Leben ohne Sirenengeheul und ohne das Krachen geräuschvoll geölter Kanonenrohre aus deutscher Produktion. Gestrandet vor den Mauern dieses Kontinents, im Dreck des Burggrabens dieser Festung. Europa! Heiliger Hort der Zivilisation! Amen.

Manchmal lache ich. Die Regierung versprüht Chemtrails, um uns alle zu kontrollieren, gefügig zu machen, und der Impfstoff erst, der verändert doch die DNA, das muss man wissen. Deutschland ist besetzt, kein Friedensvertrag, eine Kolonie, eine GmbH, heißt ja auch Personalausweis, wusstest du das noch nicht? Schlafschaf! Die wollen, dass das Volk stirbt, deswegen haben die die Grenzen geöffnet, der große Austausch, wir müssen uns wehren, machst du mit? Dieser Weg wird kein leichter sein. Ich lache, bis das Lachen gefriert, weil es mich frösteln lässt, dass die das ernst meinen, sie meinen es wirklich ernst, sie glauben daran, sie sind überzeugt, so sehr, dass einige sogar töten. Viel zu viele wurden getötet und viel zu viele vergessen viel zu schnell.

Manchmal weine ich dann, weil ich nicht mehr fassen kann, dass das alles wirklich passiert, was passiert. Dass 76 Jahre danach noch so vieles von dem da zu sein scheint, was längst überwunden schien. Dass Menschen damit rechnen müssen, an ihren höchsten Feiertagen und während des Gebets erschossen zu werden, oder nach Feierabend in einer Shisha-Bar. Der Unterschied ist nur, dass die Mörder heute keine Armbinden mehr tragen, und keine Braunhemden, dafür aber ein Smartphone auf dem Helm, das den Terror live über den Erdball streamt, und dass es im 3D-Drucker fabrizierte Waffen gibt. Jedoch das Hakenkreuz ist noch da, als Zierde für die Patronenhülsen, von denen einige aus den Beständen von Armee und Polizei stammen. Oder ist es wieder da? War es jemals weg? Es ist nicht zu fassen, dass Nazis wieder Jagd auf Menschen machen können, die sie hassen, nicht zu fassen, weil es doch so fassbar ist, mit kühlem Verstand, denn das alles war ja nie fort, war niemals an einem anderen Ort, war immer da, war immer nah, so nah, man musste nur hinschauen.

Manchmal möchte ich schreien, all die Wut hinaus schreien, damit sie der Brust entweichen möge, denn es schmerzt und es tut weh. Wann hört das auf, dieser Terror und das Morden? Es ist nicht so, das Unheil kommen zu sehen, denn es ist ja schon längst da, oder es war nie weg, aber gleichzeitig gibt es die, die nichts sehen, die nicht hinschauen, die die Fresse halten, wenn Nazis wieder Jagd auf Menschen machen, sich bewaffnen, rüsten, brüsten, mit ihren mörderischen Gelüsten, und den Träumereien vom Bürgerkrieg. Dann möchte ich schreien und rufen und brüllen: Schaut hin! Es passiert doch vor euren Augen. Und der, dem sie das Leben nahmen, nachts auf seiner Terrasse, er ist einer von euch, euer Nachbar, euer Freund, euer Parteikollege, ihr könntet die nächsten sein, die der Nazi-Terror ins Visier nimmt, weil er alles ins Visier nimmt, was nicht in sein völkisches Mikrouniversum passt – Seht ihr das denn nicht? Aber die Linken…

Manchmal ist da ein Hoffnungsschimmer, man muss nur hinsehen, die Schwaden des dichten Nebels aus schlechten Nachrichten beiseite schieben, der manchmal auch den Verstand vernebelt, wie bei so einer Gute-Nachrichten-App, denn bei näherem Hinsehen ist da ganz schön viel. So viele Menschen, die sich den Arsch aufreißen, so viele Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen, Menschen, die anderen Menschen helfen, sich stützen, wenn ihre Gesellschaft angegriffen wird. Menschen, die Menschen retten, ihnen eine helfende Hand reichen, wenn ihr Boot im Mittelmeer zu kentern droht. Menschen, die kämpfen. Welch Schönheit an Menschlichkeit. Eine Jugend, die ihr Recht auf Zukunft einfordert, sich nicht damit abfindet, dass sich nichts ändert, denn es muss sich dringend etwas ändern, es gibt keinen Planeten B, und der Kapitalismus ist ganz sicher nicht das Ende der Geschichte. Man muss nur hinsehen. Solange es Menschen gibt, die Menschen sind und auch bleiben wollen, die für eine bessere Zukunft kämpfen, gibt es die Aussicht und die Hoffnung auf genau das: Eine bessere Zukunft. Dieser Traum kann aber nur in Erfüllung gehen, wenn Vieles von dem, was in der Vergangenheit verortet wird, auch endgültig der Vergangenheit angehört. Und wenn wir alle durchgeimpft sind. Nie wieder Faschismus! Auf den Müllhaufen der Geschichte damit!

In Gedenken an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, die am 19. Februar 2020 aus dem Leben gerissen wurden. Bitte hört heute den Angehörigen und Überlebenden des Terroranschlags von Hanau zu, die ab 14 Uhr zur Öffentlichkeit sprechen werden: 19feb-hanau.org. Hanau ist überall.

Foto: Robert Fietzke

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