06. April 2021
Kolumne von Michael Bittner
Ich war verblüfft, als ich jüngst zufällig diese Beschreibung unserer Gegenwart las: „Der Flüchtlings-Strom auf dieser Erde schwillt von Stunde zu Stunde an – ausgelöst und begleitet von den Schatten politischer, ethnischer, religiöser und ökonomischer Unterdrückung und Verfolgung. Mord und Totschlag, Hunger und Hoffnungslosigkeit, Folter und Apathie bestimmen in diesem Bereich der Gegenwart die Tagesordnung. So wird das Ungeheuerliche zum Alltäglichen, das individuelle Schicksal zur inflationär verbreiteten Information, die sich selbst entwertet. Es sind jedenfalls immer mehr als triftige, oft nur noch blutige Gründe, die Menschen in dieses unfreiwillige Abenteuer treiben. Ausnahmen bestätigen nur die Regel.“
Eine seltene Stimme in unseren Tagen! Hat denn dieser Schreiber noch nichts von der neuen Mehrheitsmeinung gehört, Armut und Elend seien kein legitimer Grund zur Flucht und die meisten Flüchtenden machten sich ohnehin nur aus Jux auf den Weg durch Wüsten und über Meere? Der gutmenschelnde Autor geht sogar noch weiter, ganz ohne Rücksicht auf die ernsten Bedenken der überforderten Deutschen: „Unsere Aufnahmekapazitäten sind noch lange nicht erschöpft. Uns geht es immer noch so gut, daß sie bei uns zuletzt erschöpft sind. Wer anderes behauptet, denunziert Menschlichkeit.“ Welch eine realitätsferne Humanitätsduselei! Was für eine naive Hypermoral!
Am seltsamsten an diesen Zeilen ist ihr Autor. Es ist der Schriftsteller und Journalist Ulrich Schacht, der als politischer Publizist zu den wichtigsten Stimmen der Neuen Rechten gehörte. Schon 1994, lange vor Thilo Sarrazin, klagte er als Herausgeber des Buches „Die selbstbewusste Nation“ über das „Blockwart-System der westdeutschen PC-Gesellschaft“ und die „Diskurs-Apartheid“, unter der deutsche Patrioten zu leiden hätten. Die „islamische Einwanderung“ so Schacht im Jahr 2011, sei initiiert von linken Vaterlandsverächtern, die in ihrem „aggressiven Selbsthass“ Deutschland auslöschen wollten. 2018 starb Schacht in Schweden, wohin er sich vor der westlichen Dekadenz geflüchtet hatte.
Ich geb’s zu: Seine milden Worte des Mitleids für Flüchtende stammen nicht aus jüngster Zeit. Er hat sie 1981 in Düsseldorf in einer Dankesrede für einen Förderpreis ausgesprochen. Damals war ihm noch frisch im Gedächtnis, wie er selbst eine neue Heimat hatte finden müssen. Nach mehreren Jahren Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ in der DDR hatte ihn der Westen freigekauft, ihm eine Übersiedlung und einen Neuanfang ermöglicht. In der Rede in Düsseldorf forderte der dankbare Schacht, damals noch Mitglied der SPD, gleiche Hilfe auch für andere: „Ich denke in dieser Stunde an jene Vietnamesen, die ihre Heimat verlassen, sich aufs Meer begeben – weil sie es müssen! –, in Gefahren also, die nur mit einer größeren Hoffnung zur Seite gewischt werden können – mit der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben.“
Schacht geißelte in seiner Rede auch einen Politiker, der gewarnt hatte, das Kreuzen des Rettungsschiffes „Cap Anamour“ vor der Küste der Sozialistischen Republik Vietnam sei schädlich, weil es die Vietnamesen erst „zur Flucht provozieren“ könne. Dieser Kritiker angeblichen Schlepperwesens war niemand anderes als Schachts Genosse Johannes Rau. Er übernahm damals die Rolle, die heute all jene spielen, die vorm „Pull-Faktor“ warnen. Schacht ließ sich von dieser Angstmacherei nicht beeindrucken. Aber doch wohl nur, weil die Vietnamesen vor der richtigen Diktatur, vor der richtigen Armut flohen, ganz wie er selbst es getan hatte: „Kommunisten, dies ist keine Unterstellung, sondern Selbsterfahrung, Kommunisten können menschenwürdiges Leben nicht garantieren.“
Auch Konservative können also Flüchtende in ihr Herz schließen. Bloß sollten sich die fliehenden Menschen darum bemühen, vor Sozialisten auszureißen. Wenn die Lage der Heimatlosen heute noch erbärmlicher ist als in den Achtzigern, dann liegt das vielleicht daran, dass es kaum mehr kommunistische Diktaturen gibt, aus denen man in den freien Westen fliehen darf und dafür sogar als Held gefeiert wird. So ändern sich die Zeiten! Übrigens: Ein anderer, noch heute prominenter Mann, der sich damals für die Aufnahme der vietnamesischen „Boat People“ aussprach, war Dr. Alexander Gauland.
Foto: Amac Garbe