Europas verlorene Freunde

Europas verlorene Freunde

02. März 2021

Kolumne von Michael Bittner

Um sicherzustellen, dass eine Protestbewegung keinen Erfolg hat, sind drei Regeln zu beachten: 1. Seid unpolitisch! Haltet euch fern von der schmutzigen Welt der konkreten Tages- und Parteipolitik! Bleibt allgemeinmenschlich und hochmoralisch! 2. Seid vage! Stellt keine Forderungen auf, mit denen nicht so ziemlich alle einverstanden sein können! Seid offen für alle und alles! Beschränkt euch auf kreativen Symbolprotest, der niemandem wehtut und dem sogar die Herrschenden applaudieren können! 3. Seid unorganisiert! Erschöpft euch in basisdemokratischer Gesprächstherapie! Wählt keinesfalls Repräsentanten an die Spitze, die das politische Geschäft wirklich durcheinanderbringen könnten!
Ein Beispiel dafür, wie eine politische Bewegung verdampfen kann, die diesen Regeln folgt, ist „Pulse of Europe“. Gegründet von einem Anwaltspaar auf Frankfurt, nachdem die Briten für den Brexit gestimmt und die Amerikaner Donald Trump gewählt hatten, brachte die Gruppe zeitweise Zehntausende auf die Straßen Deutschlands, um gegen Nationalismus und für die Europäische Union zu demonstrieren. Aber die Aktivisten, zumeist aus dem gebildeten Mittelstand, wollten unbedingt „überparteilich“ bleiben und veröffentlichten ein Programm, das vor allem aus wohltönenden Gemeinplätzen bestand. Statt auch die Fehlleistungen der EU ernsthaft anzugreifen, wünschte man sich weithin nur dankbar den Erhalt des Bestehenden. Solch braver Aufruhr wurde durch das Lob der Regierenden rasch eingefriedet. „Pulse of Europe“ meldet sich noch heute regelmäßig mit Stellungsnahmen zu Wort, die aber weder die Freunde noch die Feinde der Europäischen Union sonderlich beeindrucken.
Heute wird man nicht mehr viele junge Leute finden, die bereit wären, sich mit dem blauen Sternenbanner voller Enthusiasmus auf die Straße zu stellen. Beruhigt von dem Eindruck, dass es offenbar genügend Bürgerinnen und Bürger gibt, auf die sich auch eine blinde EU verlassen kann, haben die europäischen Spitzenpolitiker beschlossen, lieber den Zorn der Europahasser zu besänftigen, als die Reformforderungen der Europafreunde zu erfüllen. Rufe nach einem europäischen Mindestlohn, nach einer Spekulationssteuer oder nach dem Kampf gegen Brüsseler Korruption werden belächelt. Die einzige „europäische Idee“, die in den recht leeren Köpfen der Elite noch übrig geblieben scheint, ist der Ausbau von Europa zur Festung. Wo als Krönung des europäischen Gedankens die Bildung einer europäischen Armee gilt, ist dann auch die deutsche Kriegsministerin Ursula von der Leyen als neue Kommandeurin recht am Platz. Das Vertrauen von vielen Vertretern autoritärer Parteien im Europaparlament konnte sie für ihre Wahl schon einmal erobern.
So möchte die Europäische Union nun also den Nationalismus überwinden, indem sie ihn zu kontinentaler Größe aufbläst. Die Rechten werden die EU trotzdem weiter hassen. Viele andere aber werden keinen Finger mehr rühren, wenn es zukünftig um ihre Verteidigung geht. Vielleicht wär’s an der Zeit für eine Bewegung, die für eine Europäische Union streitet, die es noch gar nicht gibt.

Foto: Amac Garbe

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