Es war ein Tag Ende Oktober. Wir saßen zusammen im Büro beim Teammeeting und besprachen aktuelle Probleme und Aufgaben im Back Office, auf Lesbos und auf der Werft beim Umbau unseres Schiffs, der „Rise Above“. „Seid mal still!“, sagte plötzlich eine von uns und drehte das Radio lauter:
„Vor der Küste Senegals sind nach Angaben der UN-Migrationsorganisation IOM mindestens 140 Menschen ertrunken.“
Ein Boot mit rund 200 Menschen an Bord sei am Samstag von dem senegalesischen Küstenort M’bour in Richtung der Kanarischen Inseln aufgebrochen, teilte die IOM mit. Wenige Stunden später habe das Boot Feuer gefangen und sei gekentert. Nur 59 Menschen konnten gerettet werden. Stunden später waren wir mit Informationen um die Situation im Atlantik zwischen Westafrika und den Kanarischen Inseln förmlich vollgesogen. Wir lernten, dass in diesem Jahr bereits Tausende Menschen versuchten, mithilfe von Schlauch- oder kleinen Holzbooten, die Kanarischen Inseln zu erreichen und dass es täglich mehr werden. Wie viele der kleinen offenen Boote durch den Kanarenstrom südlich an den Inseln vorbei getrieben werden und auf dem offenen Atlantik untergehen, vermag niemand zu erahnen. In den Booten sitzen hauptsächlich Menschen aus Algerien und Marokko, die der desolaten politischen und wirtschaftlichen Situation in ihren Heimatländern – hervorgerufen auch durch die COVID-19 Pandemie – entkommen wollen. Es fliehen aber auch viele Menschen aus westafrikanischen Armutsländern wie Mali, Guinea oder Senegal. Die meisten von ihnen (nimmt man an) landen auf Gran Canaria, aber auch auf Teneriffa, Fuerteventura und Lanzarote.
Die provisorischen Auffanglager sind völlig überfüllt. Die temporäre Unterbringung der Ankommenden in aktuell leerstehenden Hotels, erregt immer mehr Unmut bei der auf den Tourismus angewiesenen Inselbewohner.
Im Vergleich zum vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Menschen, die auf den Inseln ankommen, versiebenfacht. Die Statistiken spiegeln eine Verschiebung der Migrationsrouten im Süden Europas wider: Auf der westlichen Mittelmeerroute von Marokko und Algerien zur spanischen Festlandküste gehen die Migrationszahlen zurück, weil dort die EU Außengrenze stärker überwacht wird. Auf der Atlantikroute Richtung Kanaren steigen dagegen die Zahlen. Die spanische Inselgruppe liegt etwa 100 Kilometer vor der Küste der Westsahara. Die Überquerung des Atlantiks ist extrem gefährlich.
Die Berichte und Dokumentationen von IOM, UNHCR und aus der internationalen Presse haben uns schließlich gereicht, um einen Entschluss zu fassen. An der Rise Above würden die Werftarbeiten planmäßig weitergehen. Ein Einsatz im Mittelmeer frühestens nächstes Jahr möglich sein. Unser Team auf Lesbos hatten wir bereits aus Rücksicht auf die Menschen und Organisationen vor Ort und die Gefährdungslage durch COVID-19 auf nur noch eine Person reduziert. Mit den uns noch zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen, gab es keinen Grund, nicht in einem weiteren Einsatzgebiet zu helfen. Seit einigen Wochen befinden wir uns mit mehreren Teams nun bereits auf bzw. vor den Kanarischen Inseln.
Das Problem ist nicht, dass nicht gerettet wird, sondern, dass nicht gefunden wird
Fotos: Hermine Poschmann, Niklas Fischer,