04. März 2023
Kolumne von Michael Bittner
Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann hat mit seinem aktuellen Buch einen großen Bestseller gelandet. Doch sollte er sich trotzdem davor hüten, wegen des großen Erfolgs sein Buch in Dresden im Dynamo-Stadion den Massen zu präsentieren. Denn die Fans des Fußballvereins hätten wahrscheinlich wenig Verständnis für den Titel des Buches. „Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung? Nie im Leben!“ Tatsächlich empfinden die Leute, die im Stadion regelmäßig „Ost! Ost! Ostdeutschland!“ skandieren, ihre ostdeutsche Identität keineswegs als aufgezwungen. Sie bekennen sich zum Osten vielmehr mit Stolz und verweisen Leute aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung gerne einmal des Platzes: „Halt dein dummes Wessimaul!“
Was hat es auf sich mit Oschmanns Erfolgsbuch, das – wie schon zuvor ein Artikel von ihm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – eine hitzige Feuilletondebatte auslöste? Es handelt sich um eine schmissige Streitschrift, die gegen die Benachteiligung und Missachtung der Ostdeutschen durch die westdeutschen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur zürnt. Als solche verdient das Buch zunächst Lob. Oschmann erinnert an die verpasste Chance, die „Wiedervereinigung“ nicht als bloßen Beitritt der DDR zur BRD, sondern durch eine neue Verfassung als echte Neugründung Deutschlands ins Werk zu setzen. Er beklagt die von der „Treuhand“ organisierte Deindustrialisierung Ostdeutschlands mit ihren katastrophalen sozialen Folgen. Er verweist auf die Enteignung der Ostdeutschen durch das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ und auf den noch immer und wohl auch für immer bestehenden Rückstand bei Einkommen und Vermögen. Wütend beklagt er die mangelnde Präsenz von Ostdeutschen in den Spitzenpositionen der Gesellschaft, sogar in den östlichen Bundesländern selbst. All diese Kritik ist berechtigt, allerdings nicht neu, wie auch Oschmann selbst einräumt.
Origineller sind die Passagen, in denen der Germanist sich mit dem medialen Ausschluss der Ostdeutschen beschäftigt: „Wenn der Westen mit sich selbst und über den Osten redet, hört der Osten zu, wenn dagegen der Osten redet, egal worüber, hört der Westen weg, denn das schert ihn nicht.“ Dabei geht es Oschmann nicht nur darum, dass auch in den Chefetagen der Medien fast ausschließlich Westdeutsche das Sagen haben. Vielmehr sieht er Stimmen aus dem Osten im öffentlichen Diskurs prinzipiell als fremd, minderwertig und nicht wahrheitsfähig behandelt: „Dabei begreift sich der Westen stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, als Abnormalität, Abnormität.“ Beispielhaft führt er die Abwertung von ostdeutscher Kunst und Literatur an, die von westdeutschen Intellektuellen und Politikern tatsächlich zeitweise kampagnenartig betrieben wurde.
Allerdings steckt Oschmanns Buch auch voller Widersprüche. Der Autor kritisiert die Mode der sogenannten „Identitätspolitik“. Ganz abgesehen davon, dass sich diese Kritik auch längst zur Mode entwickelt hat, ist Oschmanns Buch selbst ein Beispiel für Identitätspolitik, solche ostdeutscher Art nämlich. Dass er die identitätspolitischen Argumentationsschablonen ebenfalls verwendet, räumt Oschmann denn auch ein, halb trotzig, halb zähneknirschend. Fest steckt er zum Beispiel zumeist im Gruppendenken: ostdeutsche Opfer hier – westdeutsche Täter dort. Er kopiert damit eben das „binäre“ und „schematische“ Denken und Sprechen, das er den Westdeutschen im Umgang mit Ostdeutschen vorwirft. So wird von ihm jeder Angriff auf einen Ostdeutschen in der öffentlichen Diskussion als Angriff auf die Ostdeutschen verstanden. Oschmann verteidigt Uwe Tellkamp und Neo Rauch gegen Kritik ohne jede Rücksicht darauf, dass diese Kritik zumeist nicht auf die ostdeutsche Herkunft dieser Künstler, sondern auf ihre kulturkonservative Gesinnung zielt. Kritik von Westdeutschen an Ostdeutschen empfindet Oschmann stets als übergriffig und anmaßend. Kritik von Ostdeutschen an ihren eigenen Landsleuten ist ihm nur als „Selbsthass“ erklärlich. Das alles ist tribalistisches Denken in ausgeprägter Form.
Oschmann rechtfertigt seine polemische Einseitigkeit als Notwehr gegen die angeblich ebenso undifferenzierte Behandlung der Ostdeutschen durch die Westdeutschen: „Alle waren bei der Stasi. Alle waren gedopt. Alle sprechen Sächsisch. Alle sind Nazis.“ Doch zimmert der Autor sich hier nicht einen Popanz, um die eigene intellektuelle Enthemmung rechtfertigen zu können? Verächtliche und völlig verständnislose Urteile von Westdeutschen über den Osten gibt es gewiss heute noch, wenn auch seltener als früher. Aber zu behaupten, derartiges Reden sei typisch für „die Westdeutschen“, ist deutlich überzogen. Leider ist die höhnische Übertreibung das bevorzugte Stilmittel des Polemikers Oschmann. Durch sie, so rechtfertigt er, lasse sich Aufmerksamkeit für das Unrecht im Osten erringen. Der laute öffentliche Streit um sein Buch beweist, dass er damit recht hat – was allerdings der hiesigen Öffentlichkeit wenig Ehre macht. Anderen ostdeutschen Intellektuellen, zum Beispiel dem Soziologen Steffen Mau und dem Schriftsteller Daniel Schulz, gelingt es, Aufmerksamkeit zu gewinnen, ohne sich dümmer zu stellen, als sie sind. Den Mut dazu möchte man auch Dirk Oschmann wünschen.
Mich als Leser aus dem Osten hat noch etwas anderes an diesem Buch gestört, nämlich die Art, wie es Ostdeutsche permanent zu Opfern erklärt. Indem Oschmann die Ostdeutschen aus ihrer Verantwortung entlässt, reproduziert er ungewollt den westdeutschen Paternalismus. Es waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR selbst, die bei den Wahlen des Jahres 1990 allen Versuchen, einen demokratischen Sozialismus zu schaffen oder zumindest die Wiedervereinigung als schrittweise Konföderation anzugehen, eine klare Absage erteilten. Stattdessen warfen sie sich mehrheitlich bedingungslos in die Arme des reichen Westonkels Helmut Kohl – mit den bekannten Konsequenzen. Ihre selbstmitleidige Klage darüber, nach der Wende immerzu „belogen und betrogen“ worden zu sein, hat deswegen etwas peinlich Selbstgerechtes.
Wirklich unangenehm wird Oschmanns permanente Entschuldigung der Ostdeutschen beim Thema Rechtsextremismus. Richtig ist noch sein Hinweis, der Westen verdecke seine eigene Verstrickung in den alten und neuen Nationalsozialismus gerne durch „Externalisierung“ des Problems in den Osten. Grober Unfug ist aber die Behauptung, rechtsextreme Gewalt sei erst durch eine Art „self-fulfilling prophecy“ entstanden, nachdem die Wessis die Ossis als „rechts“ denunziert hätten. Westdeutsche Agitatoren spielten gewiss nach 1990 eine bedeutende Rolle, aber Neonazi-Gewalt gab es auch schon in der DDR. Das völkische Denken musste nicht aus dem Westen in den Osten importiert werden, es gedeiht in beiden Teilen Deutschlands naturwüchsig.
Oschmanns Buch ist, was die Reflexion angeht, ein Schritt zurück hinter den schon erreichten Stand der Diskussion zwischen Ost und West. Ist es wenigstens praktisch ein Schritt nach vorn? Leider nicht. Das Ziel des Unternehmens bleibt vage: Die „Spaltung“ der Gesellschaft soll überwunden werden, auf dass künftig „Stabilität“ in einem harmonischen Deutschland herrsche. Von dem Unrecht in der Gesellschaft, das nicht allein die Ostdeutschen trifft, ist kaum die Rede. Oschmann tadelt, von den Ostdeutschen werde verlangt, sich der westdeutschen BRD-Identität anzupassen. Doch er selbst hat kein alternatives Angebot, lehnt jede eigene ostdeutsche Identität sogar ausdrücklich ab. Verspräche es nicht mehr Erfolg, das ostdeutsche Selbstbewusstsein, das sich längst gebildet hat, mit anderen sozialen Kämpfen zu verbinden? So ließe sich auch verhindern, dass stumpfe Männer im Fußballstadion darüber bestimmen, was als echter „Osten“ zu gelten hat.
Foto: Amac Garbe