01. November 2022
Kolumne von Michael Bittner
Vor ein paar Tagen schlenderte ich durch die Stadt, da erblickte ich ein merkwürdiges Plakat. Zu sehen war eine junge Frau an einem Tresen, die nicht verkrampft lachte, wie sonst in der Reklame üblich, sondern bekümmert dreinschaute. Zu lesen war: „Jeder 2. unterschätzt die Bedeutung von Trinkgeld. Trinkgeld gehört dazu“. Erst auf den dritten Blick war zu erkennen, dass ein Schnapshersteller, spezialisiert auf den Durst von leitenden Förstern, das Plakat hatte aufhängen lassen. Ich fragte mich: Versteht es sich nicht für jeden gutmütigen Menschen von selbst, in Kneipen Trinkgeld zu geben? Wird man Geizhälse, die Kellnerinnen nichts gönnen, durch so ein Plakat vom Gegenteil überzeugen? Aber ich begreife schon: Wir sind in der Krise. Dem Gastgewerbe laufen die Angestellten davon, wegen harter Arbeitsbedingungen und mauer Löhne. Da es den Unternehmern nicht zuzumuten ist, die Lage selbst zu bessern, sollen die Kunden ran und das Problem durch höhere Spesen lösen. Da wäre es doch konsequenter, die Gäste bei Personalmangel gleich selbst zur Arbeit zu verpflichten: „Auch du schenkst aus, Genosse!“
Mir war noch nicht nach Schnaps zumute, sondern nach einem Kaffee. In einem passenden Lokal blätterte ich ein bisschen in der Zeitung. Und entdeckte Erstaunliches: Die Redaktion pries da ihren Leserinnen und Lesern das Traditionsgericht „Saure Eier“ an. Das sei gesund und lecker, habe schon die Großeltern stramm und stark gemacht und sei überdies außerordentlich günstig. Für nur 2,15 Euro könne man mit Sauren Eiern einen Menschen sättigen. Da haben wir’s: Wer hungern muss, ist nur zu faul zum Kochen! Wer genug Fantasie beim Sparen hat, der kommt mühelos durch die Inflation. Wie nützlich wäre es, wenn Thilo Sarrazin, der schon vor Jahren Sparmenüs für Hartz-IV-Empfänger veröffentlichte, endlich ein Survival-Kochbuch für die Krisenzeit herausbrächte: „Von Baumrinde bis Schuhsohle. Ein Ernährungsratgeber für Geringverdiener“. Andere Wege bleiben keine mehr offen, denn die Politik hat beschlossen, dass nennenswert mehr Geld für Arme nicht verteilt wird. Sonst könnte man die Schwächsten unserer Gesellschaft nicht mehr schützen: Vermögende, die auf die pünktliche Auszahlung ihrer Dividenden angewiesen sind.
Es war nicht der letzte gute Ratschlag, den ich an diesem Tag zu Gesicht bekam. Im Hausflur hatte mein Vermieter einen Zettel aufgehängt, der für eine Seite im Internet warb, auf der man Tipps zum Senken der Kosten für Strom und Heizung finden kann. Ich schrieb mir die Adresse nicht auf. Ich wusste ja schon Bescheid: Pullover halten warm, kalte Duschen sind gesund, zum Lesen reicht auch Kerzenlicht. Warum geht der Staat nicht einen Schritt weiter und verteilt Tretmühlen, auf denen die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Freizeit, statt unnütz in ihren Wohnungen zu faulenzen, zur Verbesserung der Energieversorgung beitragen können? So würde ihnen auch gleich warm. Wir sollten alle beständig an eines denken: Werden im Winter allzu viele Ressourcen für die Luxusbedürfnisse der Leute verbraucht, leidet darunter die „deutsche Industrie“ und „unser Wohlstand“ mit ihr. Wie seltsam bloß, dass es so viele Menschen in Deutschland gibt, die von dem Reichtum, der angeblich „unser“ sein soll, noch nie etwas gesehen haben.
Foto: Amac Garbe