24. Oktober 2023
Von Matthias Meisner
Jahrzehntelang war ihr Schicksal fast in Vergessenheit geraten: Jindřiška Nováková war die jüngste Helferin der beiden Widerstandskämpfer Jan Kubiš und Jozef Gabčik, die am 27. Mai 1942 in der Prager Vorstadt Libeň das erfolgreiche Attentat auf Reinhard Heydrich verübten. Heydrich als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretender Reichsprotektor war der mächtigste Nazi im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren, das in der 1939 zerschlagenen ersten tschechoslowakischen Republik errichtet wurde – ein Kriegsverbrecher, der die brutale Erniedrigung und Unterdrückung der tschechischen Nation verantwortete und der bei der lokalen Bevölkerung rasch bekannt wurde als der „Schlächter von Prag“. Als Leiter der Wannseekonferenz im Januar 1942 wurde er zu einem der Hauptorganisatoren des Holocausts.
Die 14-jährige Schülerin Jindřiška bekam nach dem monatelang von der tschechoslowakischen Exilregierung in London vorbereiteten Attentat, bei dem Kubiš an einer Haarnadelkurve eine Handgranate auf Heydrichs Fahrzeug mit offenem Verdeck warf, die ehrenvolle Aufgabe, eine Spur zu den Attentätern zu verwischen. Während der schwer verletzte Heydrich noch im nahe gelegenenen Bulowka-Krankenhaus von Spitzenärzten der Nazis letztlich erfolglos behandelt wurde, schaffte sie das blutbeschmierte Fahrrad von Kubiš weg vom Tatort. Heydrich starb wenige Tage nach dem Attentat in der Klinik. Die Anthropoid genannte Aktion wurde zur wichtigsten Operation des tschechoslowakischen Widerstands. Heydrich war der ranghöchste Nazi überhaupt, der bei einem Attentat zu Tode kam.
Die Eltern von Jindřiška hatten Kubiš und Gabčik, die schon Ende 1941 mit Fallschirmen in der Nähe von Prag abgesprungen waren, seit Monaten unterstützt, boten ihnen und anderen Untergrundkämpfern immer wieder Unterkunft. Ihre Kinder – Jindřiška war die Jüngste und hatte vier ältere Geschwister – wurden bis auf die Älteste, die einen Sudetendeutschen geheiratet und sich von der Familie entfremdet hatte, im Geist der patriotischen Turnbewegung Sokol erzogen. Der Vater Václav hatte sich einer Widerstandsgruppe bei der Sokol-Bewegung angeschlossen. Nach dem Attentat auf Heydrich saß Kubiš, der durch umherfliegende Munitionssplitter ebenfalls verletzt worden war, bei der Familie schon am Küchentisch, als Jindřiška heimkam. Er drängte sie, das Fahrrad vom Tatort zu holen.
In einem Interview mit Radio Prag International berichtete der Historiker Vojtěch Kynci von der tschechischen Akademie der Wissenschaften 2022, dass Jindřiška tatsächlich zu der Kreuzung gegangen sei. Zwei Frauen, die später ihre Beobachtungen an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) weitererzählten, hätten sie gefragt, warum sie das Rad wegbringe. Daraufhin habe sie geantwortet, dass es ihrem Vater gehöre und sie es ihm zurückbringen wolle. Eine Woche nach dem Attentat habe die Gestapo dann alle gleichaltrigen Mädchen aus der Umgebung im Kinosaal des Palais Petschek zusammengeholt und befragt. Kynci sagte: „Am Ende konnte oder wollte keine der Informantinnen das richtige Mädchen identifizieren. Vielleicht verschwiegen sie auch, dass sie jemanden erkannt haben. Jindřiška war zwar unter den letzten zehn Verdächtigen, wurde aber nicht enttarnt. Dieser Tag endete für Jindřiška also mit einem großen Erfolg, denn sie verriet nichts und ließ sich auch nichts anmerken. Sie hielt dem großen Druck von Seiten der Gestapo stand.“ Auch das Fahrrad von Kubiš wurde nicht gefunden, wie es im Bericht von Radio Prag International weiter heißt. Doch zwei Wochen später wendete sich das Blatt, als ein Vertrauter von Kubiš und Gabčik die Nováks an die Gestapo verriet.
An die Familie erinnert schon seit einiger Zeit eine Gedenktafel im Stadtbezirk Libeň. Die Straße, in der die Familie lebte, wurde, nach dem Krieg umbenannt in Ulice Novákových. Jindřiška bekam im vergangenen Jahr – 80 Jahre nach ihrer mutigen Unterstützung der Widerstandskämpfer – ihr eigenes Denkmal im Hof der Bohumil-Hrabal-Schule, die zu ihrer Schulzeit noch den Namen „U zámku“ (Am Schloss) trug. Es ist eine Installation mit zersägten Fahrrädern und ledernen Fahrradsätteln, auf denen geschaukelt werden kann. Jindřiška trohnt auf zusammenmontierten Fahrradfelgen.
Prag und seine Umgebung sind voll von Gedenkorten an das Attentat auf Heydrich und die brutalen Racheakte der Nationalsozialisten. Allen voran die Gedenkstätte in der Gemeinde Lidice, die mit ihren 503 Bewohnern wegen des – unberechtigten – Verdachts ausgelöscht wurde, die Fallschirmjäger unterstützt zu haben. Am Ort des Attentats gibt es ein Denkmal. Die Krypta der Kirche St. Cyrill und Method in der Neustadt, in der sich die Attentäter verschanzt hatten, wurde zum Nationaldenkmal für die Helden der sogenannten Heydrichiade erklärt. SS und Gestapo waren aufgrund eines Verrats auf das Versteck aufmerksam geworden. Mutmaßlich wurden die Leichen der Heydrich-Attentäter auf dem kubistischen Friedhof Ďáblice im Prager Norden in einem Massengrab verscharrt – auch dort erinnert ein Gedenkstein an sie.
Und dann gibt es Orte, an denen es keine Gedenktafel gibt und die dennoch im Zusammenhang mit dem Attentat und den Racheaktionen der Nationalsozialisten stehen. Im Schaufenster des bis heute existierenden Kaufhauses der Schuhfirma Baťa am Wenzelsplatz beispielsweise wurden Gegenstände ausgestellt, die die Attentäter am Tatort zurückgelassen hatten: darunter ein Sommermantel, eine Ballonmütze aus Kamelhaar, eine braune Aktentasche. Der nationalsozialistische Staatsminister Karl Hermann Frank, der im Rahmen der „Sonderaktion Prag“ 1942 auch das Massaker in Lidice sowie in der Gemeinde Ležáky organisierte, hatte die Fahndung gesteuert und eine Belohnung von zehn Millionen Kronen zur Ergreifung der Attentäter ausgelobt. Frank wurde 1946 nach dem Krieg in Prag vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und im Gefängnis Pankrác durch den Strang am Würgegalgen öffentlich hingerichtet.
Familie Novák mit Ausnahme der ältesten Tochter Marie wurde nach dem Verrat am 9. Juli 1942 von der Gestapo in die Kleine Festung Theresienstadt deportiert. Am 23. Oktober 1942 wurden Jindřiška, ihre Eltern und ihre drei Geschwister Anna, Miroslava und Václav ins KZ Mauthausen verlegt. Einen Tag später wurden sie dort ermordet – auf den Tag 81 Jahre ist das nun her. Jindřiška wurde 14 Jahre, fünf Monate und 18 Tage alt. Es gab keinen Prozess. Die Nazis in Mauthausen fertigten mit Aktenzeichen 339/42 eine „Todesfallsaufnahme“, in der von einer „Verstorbenen“ am „24. Oktober 1942 gegen 11, 12 Uhr“ die Rede ist. Im Formular wurde bei Beschäftigung, Religion und ordentlichem Wohnsitz jeweils ein „Unbekannt“ in das Papier gestempelt, bei Heimatzuständigkeit und Staatsangehörigkeit „Protektorat“. Dass sie ermordet wurde, veschweigen die Akten. Jindřiška war das jüngste Mädchen, das im KZ Mauthausen hingerichtet wurde. Wäre es nicht zum Verrat gekommen, hätte das Widerstandsnetzwerk die Folgen des Attentats womöglich überlebt und Jindřiška könnte ihre Geschichte, die einer vorbildlichen Widerstandskämpferin, selbst erzählen.