27. Mai 2021
Kolumne von Matthias Meisner
Die Instrumentalisierung von Kindern gehört zu den besonders düsteren Seiten in der Debatte um die Coronamaßnahmen. Immer fanatischer und oft auch hasserfüllter verläuft die Auseinandersetzung: Die Maskenpflicht für Schülerinnen und Schüler wird von „Querdenken“ und deren Unterstützern zum „Verbrechen“ erklärt. Gegen Selbsttests an Schulen wird Stimmung gemacht und eine „Panikmache“ der Regierung behauptet. Ob nun bei der Polonaise von Coronaleugner:innen auf dem Marktplatz in Meißen oder bei Großdemonstrationen wie in Leipzig, Kassel oder Stuttgart: Immer wieder werden Kinder auch bei Protesten auf der Straße nach vorn geschickt, um ein robustes Eingreifen der Polizei bei Verstößen gegen Auflagen zu hintertreiben.
Eine besonders perfide Variante der Agitation unter Vereinnahmung junger Menschen ist ein neues Kinderbuch, Anfang Mai unter dem Titel „Coboldi“ erschienen. Es wird kräftig beworben in den Telegram-Kanälen von „Querdenken“ von Bochum über Bonn bis Dresden. Laut Ankündigung der Macher:innen erhebt der Titel den Anspruch, „als realsatirisches Märchen“, „mit einer Prise Humor“ und „mit einem Augenzwinkern“ zur Diskussion um das Virus und seine Gefahren beizutragen. Es sei ein „Werk für Jung und Alt“.
Doch die Aquarell-Cartoon-Zeichnungen in „Coboldi“ sind alles andere als witzig. Zwar erinnern sie auf den ersten Blick an gesunde Kinderbücher wie „Karius und Baktus“. Mit „Coboldi“ aber wird üble Propaganda gemacht gegen eine angebliche „Pandemie der Lügen“, wie Covid-19 in einem YouTube-Video zu dem Buch genannt wird. Eine Karikatur von Kanzlerin Angela Merkel mit Luftpumpe und Virus soll eine „aufgeblasene P(l)andemie“ illustrieren. Der Bundesregierung wird „Angstterror“ unterstellt. Merkel, CSU-Chef Markus Söder und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach beerdigen als „Club der Politikelite“ auf einem anderen Bild das Grundgesetz. Auf der Internetseite zum Buch heißt es: „Nur wenige Auserwählte bestimmen über die Bevölkerung. Experten werden nur nach Übereinstimmung mit der Agenda der Elite ausgesucht.“ Es ist eine unmissverständliche Anspielung auf das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung.
Und so geht das weiter: Gäste in den TV-Talkrunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens würden von „gesichtslosen Strippenziehern“ wie „Big Pharma“ oder „Big Tec“ gesteuert – so ein anderes Bild in dem Buch, das eine „Medienmanipulation“ behauptet. Eine weitere Zeichnung, die jedes Kind verstehen soll: Einem Protest von fröhlich dreinblickenden Familien mit Transparenten für „Liebe“, „Peace“ und „Freiheit“ stehen düster dreinblickende und aufgerüstete Polizisten gegenüber. Die Botschaft: Meinungs- und Versammlungsfreiheit seien im Lande nicht mehr garantiert. Von „Isolation“ vieler Menschen ist die Rede, einer „versteckten Impfpflicht“. Kinder sollen mit dem Buch so schon im jungen Alter begreifen, dass in der Coronakrise „die Freiheit verschwindet“. Völlig egal, wie die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus auch sie schützen: Kinder werden so aufgerufen zu einem Kampf gegen „Merkel-Regime“ und „Coronadiktatur“.
So werden die Kindersoldaten der Pandemie rekrutiert, die Seite an Seite mit ihren Eltern in den Corona-Widerstand ziehen sollen. Es ist eine Masche, die auch andere Akteure in der Coronaverharmloser:innen-Szene praktizieren. Der Filmregisseur Dietrich Brüggemann, Mitinitiator der Schauspieler:innen-Aktion #allesdichtmachen, verbreitete vor wenigen Tagen ein Video von Sucharit Bhakdi auf Twitter. Es ist als Verteidigung der Aktion #allesdichtmachen gedacht. Bhakdis neuer „Lehrstoff“: „Wissen Sie, dass das Coronavirus unsere Kinder nicht mehr gefährdet als Schnupfen-Viren?“, fragt er sein Publikum. „Warum sollen sie gegen Corona geimpft werden mit genbasierten Impfstoffen, die nicht ausreichend geprüft worden sind?“ Der emeritierte Mikrobiologe behauptet, Kinder seien in der Pandemie „Teil eines riesigen Menschenexperiments geworden“. Bhakdis Buch „Corona – Fehlalarm?“ wird in der Szene „als Quasibibel behandelt“, wie die Autorin Karolin Schwarz sagt. Nun reklamiert er für sich, das „Wohl unserer Kinder“ im Blick zu haben.
Anderes Beispiel: Der ehemalige Potsdamer Jugend- und Familienrichter Hans-Christian Prestien füttert Coronaskeptiker:innen auf seiner Homepage mit Mustervorlagen für Klagen gegen die Maskenpflicht an Schulen. Widerhall findet er unter anderem einem Verein von Väterrechtlern, dem „Väteraufbruch“. Dessen Kieler Ableger lud Prestien im April zur Diskusion ein und warnte vor einer „deformierten Generation“. „Wer Kindheitstraumata sät, wird Totalitarismus ernten“, hieß es. Und: „Die Coronamaßnahmen hinterlassen eine Schneise der Verwüstung in unzähligen Kinderseelen!“
Solche Art Angstmache und Dramatisierung hat offenbar Folgen: Allein in Thüringen zählte das Bildungsministerium in diesem Jahr 71 Angriffe auf Lehrer:innen im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen. Die Pädagog:innen wurden beleidigt, bedroht und beschimpft oder sogar körperlich angegriffen, wie der MDR unter Berufung auf Bildungsminister Helmut Holter (Linke) meldete. Der AfD-Landtagsabgeordnete Uwe Thrum nannte das bedauerlich, relativierte die Attacken jedoch mit dem Hinweis, sie seien eine Reaktion auf die Pandemie-Auflagen von Bund und Land.
In Freital hat sich Oberbürgermeister Uwe Rumberg (früher CDU, inzwischen parteilos) Anfang Mai bei einer von der AfD organisierten Kundgebung von rund 120 Schüler:innen, Eltern und Großeltern dafür feiern lassen, dass er sich entgegen der Vorgaben des Landes für eine Wiedereröffnung von Schulen und Kitas und gegen eine Testpflicht von Grundschüler:innen einsetzte. Die Menge ließ 99 rote Luftballons zum Horizont aufsteigen. Nena, die sich schon früher im Jahr bei Corona-Demonstrant:innen in Kassel bedankt hatte, hätte ihre Freude gehabt.
Zurück zum Kinderbuch „Coboldi“: Es ist im Selbstverlag als „Book on Demand“ erschienen, wird vertrieben von zahlreichen Online-Händlern wie Hugendubel, Amazon, Thalia und Weltbild. Wer die Macher:innen sind, ist unklar. Bei Chenoa Ohm als Autorin und Malik Valea Viking als Illustrator dürfte es sich um Pseudonyme handeln – die beiden Namen tauchen nur im Zusammenhang mit dem Buch im Internet auf.
Woraus die Macher:innen von „Coboldi“ indes kein Geheimnis machen: aus ihrer Nähe zur verschwörungsideologischen und auch zur extrem rechten Szene. Als „empfehlenswerte Webseiten“ listen sie auf der eigenen Homepage neben Portalen von Corona-Verharmloser:innen wie „Corona-Ausschuss“, „Ärzte für Aufklärung“ und „Eltern stehen auf“ beispielsweise auch auf: den Verlag Rubikon, das rechtsextreme „Compact“-Magazin, die „Epoch Times“, den Kopp-Verlag und den Blogger und YouTuber Boris Reitschuster. Angeblich um den Schutz von Kindern besorgte Menschen finden sich so wieder an der Seite von Rechtsradikalen.
Der Autor ist Co-Herausgeber des im April im Herder-Verlag erschienenen Buches „Fehlender Mindestabstand – die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“. Am 27. Mai um 18 Uhr diskutiert er bei einer digitalen Veranstaltung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung im Rahmen von „Leipzig liest“ mit Katharina Warda, Soziologin und Mitautorin des Buches. Es moderiert der Historiker Justus Ulbricht. Informationen zur Veranstaltung hier.
Foto: Dora Meisner