24. Juni 2023
Kein Gedicht von Thomas Gsella
Die Hölle vor Pylos
Überlebende berichten übereinstimmend, dass die griechische Küstenwache das Boot aus den griechischen Gewässern ziehen wollte, durch ruckartige Kurswechsel zum Kentern brachte und sich dann entfernte. Unter Deck waren Hunderte Frauen und Kinder, eingeschlossen, durstig, hungrig, entkräftet, es ist heiß, die Luft ist dünn und verdorben von Schweiß, Erbrochenem, Kot und Urin, aber plötzlich ist alles anders, ein Ruck und noch einer, und dann beginnt das Schiff zu sinken, alle spüren sofort, dass sie sterben werden, alle, sie schreien, sie pressen die Kinder und Mütter an sich und wissen, dass alles vergeblich war, die Mühen und Ängste der Flucht, die Hoffnung auf ein menschliches Leben, und in der nächsten Sekunde werden ihnen die Kinder und Mütter entrissen, denn Boote sinken nicht waagerecht, das Boot neigt sich, sinkt senkrecht in die Tiefe, es dreht sich, es taumelt, die Frauen und Kinder werden hin und her geschleudert, umherrasende Kniee und Füße und Ellbögen verletzen die noch Lebenden, noch Erstickenden, noch Schreienden, Nasen werden gebrochen, Kiefer werden gebrochen und Arme und Beine, Augen zerfetzt und Organe zerrissen, Gesichter und Körper verwüstet, Dutzende Frauen und Kinder werden auf andere gedrückt, Brustkörbe splittern, überall Todesschreie, überall Dunkel, alle sind vollkommen allein und sterben vollkommen allein, noch aber dauert das Sterben, dauert die Hölle, immer mehr Wasser dringt ein, wieder neigt sich und dreht sich das Schiff und wirft die Verzweifelten, die Gequälten herum, und niemand weiß, wie viele Minuten sie starben, zerquetscht von den Mitsterbenden, schreiend vor Schmerzen, Todesangst und unsagbarem Entsetzen, und stimmt es also, was die Überlebenden übereinstimmend berichten, jene wenigen, die tagelang hungernd und durstend auf Deck waren und dennoch die Kraft besaßen, die entfernt wartenden Rettungsboote zu erreichen, dann war es kein Unglück, keine Katastrophe und noch weniger eine unausweichliche Tragödie, sondern ein Massenmord, dem eine unvorstellbare Massenfolter vorausging, eine Folter, deren Grausamkeit und Grauen wir nur von fern erahnen und die wir nachzufühlen versuchen oder davor zurückschrecken, aber niemals auch nur annähernd wirklichkeitsgetreu werden beschreiben können.
Hell off Pylos
Survivors unanimously report that the Greek Coast Guard attemped to pull the boat out of Greek waters, capsized it by jerkily changing course, and then moved away. Below the deck were hundreds of women and children, trapped, thirsty, hungry, exhausted, it is hot, the air is thin and foul with sweat, vomit, feces and urine, but suddenly everything is different, a jolt and another, and then the ship begins to sink, all of them immediately feel that they are going to die, all of them, they scream, they press the children and mothers to themselves, knowing that everything was in vain, the hardships and fears of escape, the hope of a human life, and in the next second the children and mothers are torn from them, because boats do not sink horizontally, the boat tilts, sinks vertically into the depths, it turns, it lurches, the women and children are tossed back and forth, knees and feet and elbows hurt those still alive, still suffocating, still screaming, noses are broken, jaws are broken and arms and legs, eyes torn and organs ripped, faces and bodies ravaged, dozens of women and children are pushed onto others, chests splinter, death cries everywhere, darkness everywhere, all are completely alone and die completely alone, but still the dying lasts, lasts the hell, more and more water penetrates, again the ship tilts and turns and throws the desperate, the tortured around, and no one knows how many minutes they have died, crushed by the fellow dying, screaming in pain, agony and unspeakable horror, and so is it true what the survivors report in unison, those few who were starving and thirsting on deck for days and yet had the strength to reach the distant waiting lifeboats, then it was not an accident, not a catastrophe and even less an inevitable tragedy, but a mass murder preceded by an unimaginable mass torture, a torture whose cruelty and horror we can only surmise at from afar and which we try to sense or even shy away from the thought of, but will never come close to describing realistically.
Foto: Tom Hinter