Die Angst, dass er zurückkommt  

Die Angst, dass er zurückkommt

22 September 2020

Kolumne von Özge

Die Angst, dass er zurückkommt – ein Gespräch mit meiner Schwester

Vor 20 Jahren wurden meine Mutter Ayşın und meine damals fünfjährige Schwester Elif auf der Straße von einem Neonazi angegriffen. Ich habe mit meiner Familie noch einmal über das Ereignis und seine Folgen gesprochen. Die dabei entstandenen Gespräche werden der Reihe nach hier veröffentlicht, beginnend mit meiner Schwester, die heute 25 ist und Gebärdensprachpädagogik studiert.

Ich: Was ist an dem Tag passiert?

Elif: Ich wollte mit meiner Mutter einkaufen fahren, wir sind zu unserem Auto gelaufen, ich hatte einen Roller dabei. Dann kam so ein Mann – ich weiß nur noch, dass er sehr groß war – und sagte sehr laut, dass wir im Parkverbot stehen. Meine Mutter meinte, nein, das stimmt nicht. Der Typ fing an zu brüllen: nein, Sie dürfen hier nicht stehen! Dann hat er auf meinen Roller gezeigt und meinte, dass er mir den Roller wegnehmen will. Ich hatte total Angst. Auf einmal hat er meine Mutter angegriffen. Sie hat sich mit ihm gerauft und ist dabei von mir weggegangen. Ich verstand nicht, was passiert, habe meine Mutter plötzlich nicht mehr gesehen und voll angefangen zu heulen. Ein älteres Ehepaar kam und hat gefragt, was los ist, ich konnte aber nicht antworten, sondern habe nur geweint. Die sind einfach weitergelaufen. Irgendwann kam meine Mutter zurück und wir gingen nach Hause, mein Vater hat an der Tür gewartet, er hat es irgendwie mitbekommen. Ich kann mich dann noch an den Abend erinnern. Ich hab mich nicht getraut, aufs Klo zu gehen, ich hab mich nicht getraut, ins Bett zu gehen, ich konnte nicht alleine sein, ich hatte die ganze Zeit Angst, dass er zurückkommt. Ein paar Tage später hat meine Mutter nochmal mit mir darüber geredet und mich gefragt, ob ich mit einem Therapeuten darüber reden will, aber ich wollte das nicht, ich wollte das nur vergessen.

Ich: Was hast du im Nachhinein noch erfahren?

Elif: Unsere Eltern haben ja lange nicht mit uns darüber geredet. Mit 13, 14 habe ich erfahren, dass meine Mutter damals wohl in einen Kiosk gelaufen ist, um Hilfe zu rufen, aber die wollten ihr nicht helfen. Ich habe zu dieser Zeit erst verstanden, dass das rassistisch motiviert war, das haben die uns ja auch lange nicht erzählt. Vom Gerichtstermin auch nichts. Ich war da auch nicht dabei, ich habe auch mit keinem Polizisten geredet.

Ich: Das Ereignis wurde ja in unserer Familie ab und zu thematisiert. Wie, würdest du sagen, hat das unser Leben beeinflusst?

Elif: Es hat mich voll schockiert, als ich rausfand, dass das ein Nazi war. Ich habe ja als Kind überhaupt nichts verstanden, nur dass er gefährlich ist und irgendwas gegen uns hat – und dass er meinen Roller will (lacht). Das hat sich auf jeden Fall eingegliedert in eine Reihe von Erlebnissen mit Nazis. Dass wir auf Demos von ihnen angegriffen wurden zum Beispiel, oder dass meine vietnamesische Freundin mal in der Bahn angespuckt wurde. Es war einfach schon immer eine reale Möglichkeit, dass man von Nazis angepöbelt, angegriffen wird und so, obwohl ich wie alle anderen – wie alle Deutschen – bin. Trotzdem ist es eine realistische Gefahr, das hat sich dadurch für mich gezeigt.

Foto: Özge

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