04. Juli 2023
Kolumne von Michael Bittner
Es ist wieder einmal so weit: Die Deutschen fragen sich, erschrocken und ungläubig, ob es in ihren Reihen womöglich Nazis geben könnte. Die jüngsten Wahlsiege in der ostdeutschen Provinz und die Umfrageergebnisse der faschistischen Partei deuten darauf hin, dass der schreckliche Verdacht nicht ganz unbegründet sein könnte. Gutherzige Bürger wenden aber sogleich ein: Es kann doch unmöglich sein, dass jeder fünfte Deutsche ein Nazi ist! So ist es denn auch wirklich nicht. Da sind schon die vielen Menschen, unter ihnen vor allem Arme, die leider nicht mehr zu Wahlen gehen, weil sie sich nicht ohne Grund von der Politik gar nichts mehr erhoffen. Sie tauchen weder in Umfragen noch Wahlergebnissen auf. Und auch unter den Wählerinnen und Wählern der AfD beginnen nicht alle den Tag mit einem Hitlergruß. Das macht die Sache aber nicht besser. Hätte man 1933 die Leute, die NSDAP wählten, gefragt, ob sie sich einen Zweiten Weltkrieg und einen Holocaust wünschten, hätten die meisten gewiss den Kopf geschüttelt. Beides kam aber trotzdem. Natürlich findet man unter den Wählern der AfD auch Leute, die für diese Partei nicht stimmen, weil sie im Vierten Reich leben wollen, sondern weil sie partout keine Frau finden oder sich über Hundescheiße auf dem Gehweg aufregen – aber das macht ihre Entscheidung nicht weniger gefährlich.
Die Reaktion der etablierten Parteien auf den Erfolg der AfD ist mit dem Wort erbärmlich noch zurückhaltend beschrieben. Nicht nur schaffen sie es wieder einmal mit vereinter Kraft, dass die gesamte öffentliche Debatte sich zur Freude der AfD um nichts als die AfD dreht. Sie zeigen auch wieder verlässlich alle mit dem Finger auf die anderen. Die allgemeine Analyse lautet: „Die Leute wollten eigentlich uns wählen, aber wegen der Dummheit unserer politischen Gegner haben sie leider die AfD gewählt.“ Für den Erfolg der AfD sind offenbar alle verantwortlich außer ihren Wählern. Die zu behandeln, als wären sie unzurechnungsfähige Kleinkinder, gilt seltsamerweise als besonders volksnah. Sollte es Leute geben, die AfD ankreuzen, ohne recht zu wissen warum, werden ihnen gerade die Rechtfertigungen nachgeliefert: Am Gendern soll es liegen oder am Heizungsgesetz, am Veggie-Day oder an der wunden ostdeutschen Seele. Tausendundein Grund, AfD zu wählen! Langsam müssen sich die, die es noch nicht tun, fragen, was sie eigentlich falsch machen.
Natürlich könnte man die Wählerinnen und Wähler der AfD auch einfach einmal fragen, was sie so antreibt. Nach der letzten Landtagswahl in Sachsen hat das Institut infratest dimap das getan: Eine große Mehrheit von 59 Prozent gab an, die Faschisten wegen ihrer Haltung zur Zuwanderung zu wählen, die darin besteht, die Grenzen dicht zu machen und die Migranten, die schon da sind, zu entrechten und gewaltsam zu deportieren. Weitere 44 Prozent nannten das Problem der Kriminalität – das für Freunde der AfD bekanntlich mit der Migration identisch ist. Nur 17 Prozent nannten die soziale Sicherheit. Auch andere Studien kommen zu dem Schluss, dass die auch unter Linken immer noch verbreitete Geschichte nicht wahr ist, die AfD werde vor allem von ökonomisch Abgehängten aus Sehnsucht nach Gerechtigkeit gewählt. Es ist klar, dass sozialer Frust dazu beitragen kann, empfänglich für fremdenfeindliche Vorurteile zu werden. Aber es gibt auch viele Benachteiligte, die wütend auf die Verursacher ihrer Lage sind und nicht auf Menschen, denen es oft noch dreckiger geht. Entscheidend für den Erfolg der AfD ist die Erzählung, die Migration sei die Mutter aller Probleme, wie sie in den vergangenen Jahren in breitester Front von Seehofer bis Wagenknecht und von ZEIT bis BILD vorgetragen wurde. Wie das Else-Frenkel-Brunswik-Institut gerade herausfand, glauben in Ostdeutschland, wo die meisten persönlich gar keinen Ausländer kennen, 37 Prozent der Leute, Deutschland sei gefährlich überfremdet. 41 Prozent halten alle Ausländer für Sozialschmarotzer. Den rechten Propagandisten, die ihre Hetze gegen Zuwanderer täglich weiter verschärfen, sind diese Zahlen noch nicht hoch genug.
Denen, die AfD wählen oder damit drohen, es zu tun, erfüllt nun auch noch der Staat ihre Wünsche: Die Grenzen für Flüchtende werden auf mörderische Weise geschlossen. Warum, so müsste man sich eigentlich fragen, sollten diese Leute nicht mehr AfD wählen? Sie werden gehört, entschuldigt und umsorgt. Widersprochen wird ihnen kaum. Auch wenn die AfD vorläufig noch nicht in der Regierung sitzt – an der Macht ist sie längst.
Foto: Amac Garbe