28. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Alle, die mit den Ausländern gearbeitet haben, seien Agenten des Westens, sie hätten ihre Propaganda und Agenda in Afghanistan verbreitet, so die offizielle Einstellung der Taliban in Afghanistan. In vielen Fällen ist es sicherlich eine völlig überzogene und bösartige Unterstellung, die dazu dient, eine Herrschaft des Grauens zu etablieren und drakonische Strafen für unliebsame Personen zu rechtfertigen. Im Falle von Rashid* (Name geändert) jedoch, stimmt das vielleicht mehr als in anderen Fällen. Er arbeitet von 2015 bis Mai 2021 für das Bayan-e Shamal Media Center, das 2020 in Bauer Media Center umbenannt wurde. Die Arbeit gehört zur Schnittstelle afghanischer und deutscher PsyOps-Kräfte. PsyOps ist die Abteilung einer Armee, die für die psychologische Kriegsführung verantwortlich ist.
Ein großer Teil dieser Arbeit ist der sogenannte Informationskrieg. Im Zuge dessen produzieren der 30-jährige Rashid und seine Kollegen mediale Inhalte in allen möglichen Formen – Video, Radio, Print – mit dem Ziel, die Unterstützung der Afghanen für die eigene Armee und im Kampf gegen die Taliban zu stärken sowie die eigenen Soldaten zu motivieren. Gleichzeitig warnen sie vor der radikalislamischen Ideologie der Taliban und loben die angeblich herrschende Demokratie im durch die NATO-Kräfte aufgebauten Staat. Während die deutsche Bundeswehr sich Mühe gibt, stets die positive und motivierende Ausrichtung des eigenen Informationskriegs hervorzuheben, ist die Arbeit schlicht nichts anderes als positive Propaganda. Auch Reshad muss bei dem Wort lachen: „Ja im Prinzip haben auch wir Propaganda gemacht.“ Er habe sich wie ein Soldat gefühlt, der mit dem Stift als Waffe auf der Seite der Guten gekämpft hat. Doch der Bereich PsyOps trotz aller moralischen Bedenken ein wichtiger und elementarer Bestandteil der Kriegsführung ist, steht außer Frage. Und das auf allen Seiten, in allen Kriegen und Konflikten. Ein gutes Beispiel sei die Taliban, sagt Reshad. Diese hätten viele Städte und Orte fast kampffrei übernehmen können, da viele Soldaten und Sicherheitskräfte aus schierer Angst vor ihnen geflüchtet sind. Also auch Nachrichten hätten ein so eindrückliches Bild der Taliban kreiert, dass sie nur auf ihrem Ruf aufgebaut ein ganzes Land erobern können.
Bei Rashid merkt man, er weiß, wovon er spricht. Während seiner sechsjährigen Tätigkeit steigt er zum Ressortleiter beim BMC auf, stellt bei ranghohem Besuch deutscher Generäle die Arbeit der Zweigstelle vor. Am Ende verdient er ein für Afghanistan ordentliches Gehalt von 850 US-Dollar im Monat. Doch nachdem klar wurde, dass aufgrund des Friedensabkommens zwischen USA und Taliban auch die deutsche Bundeswehr abzieht, beginnt sich Unmut unter den Angestellten des BMCs breitzumachen. Reshad und seine Kollegen beschließen, sich zusammenzuschließen. Eines Morgens, es ist der 28. Mai, gehen sie gemeinsam zur Einsatzführung und stellen einen Asylantrag. Sie fordern, dass die Deutschen Verantwortung für sie übernehmen und nicht zurücklassen. Am 29. wird ihm und 25 weiteren Mitarbeitern gekündigt.
Der deutsche Hauptmann, der für das Projekt vonseiten der Bundeswehr sozusagen als Kontrollinstanz zuständig war, stimmt der Kündigung zu. Sie werden, als das Land nach und nach in die Hände der Taliban fällt, nicht evakuiert. Unter der Schlagzeile „Die 26 vergessenen“ – „The forgotten 26″ machen sie seitdem auf ihren Fall aufmerksam, zumeist durch Präsenz in den sozialen Medien, aber auch durch Kommunikation mit Behörden oder Mission Lifeline. Mit Erfolg: Bislang haben es 21 von ihnen aus Afghanistan rausgeschafft, doch nicht Rashid. Vergeblich versucht er, vom 13.8 bis 23.8 in Kabul über den Flughafen rauszukommen. Er berichtet von „albtraumartigen Zuständen“. Rashid selbst hat das Problem „Kernfamilie“. Er hat eine Aufnahmezusage erhalten, doch seine Eltern und sein jüngerer Bruder nicht. „Ich gehe nicht ohne meine Familie“, sagt er. Er kämpft dafür, dass dieses laut ihm sehr europäische Konzept von Familie in Bezug auf Schutzbedürftige aufgehoben wird. Denn wegen seiner Tätigkeit ist die gesamte Familie in Gefahr. Sein Bruder wurde bereits von den Taliban gefangen genommen und misshandelt. Denn nicht nur er, auch seine zwei Schwestern haben für die Deutschen gearbeitet, und zwar für die GIZ. Die ältere Schwester ist in Schweden. Seine zweite Schwester ist nach Teheran geflohen, ein Anwalt bemüht sich derzeit um ihre Aufnahme nach Deutschland. Seine Eltern und jüngerer Bruder leben mit ihm in Mazar-e Scharif. Die Situation sei kaum auszuhalten, sagt er. In seinem Gesicht sieht man die große Sorge, dass er von 26 Vergessenen als einziger zurückbleiben wird. Am Ende des Gesprächs aber betont er nochmal, was er am Anfang gesagt hat. „Ich gehe nicht ohne meine Familie.“ Denn egal, wie Deutschland die sogenannte „Kernfamilie“ definiert, der Kern, das ist für ihn seine Mutter, Schwester und Bruder.