22. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Dass Aryan* (Name geändert) ein Händchen für Sprachen hat, wird im Gespräch schnell klar. Er ist zweisprachig aufgewachsen: Mit seiner Mutter spricht er als Kind Paschtu, mit seinem Vater Dari, eine Variante des Persischen. Im Interview an diesem sonnigen Wintertag, das wir in landesüblicher Manier auf dem Teppichboden verbringen, wechselt er sprunghaft zwischen fließendem Deutsch und Englisch, aber nicht hektisch, sondern elegant, so wie jemand, der sich offensichtlich wohlfühlt beim Reden. Sein Talent war auch den verantwortlichen Offizieren im Camp Marmal nicht lange verborgen geblieben. Das „Marmal” war die größte Militärbasis im Norden Afghanistans, genauer gesagt in der Provinz Balkh, wo die deutsche Bundeswehr während ihres zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes ab 2006 die Kommandoführung übernahm. Dort beginnt er 2007 als Putzkraft im Feldlazarett zu arbeiten. Sein Händchen für Sprachen wird entdeckt, Deutsch lernt er teilweise nur durchs Zuhören, und er beginnt, zwischen Bundeswehr und der afghanischen Armee (ANA) zu übersetzen.
Sein Beruf bringt ihn oft in brenzlige Situationen. Und zwar nicht nur unmittelbar in Kriegsgefahr, doch auch im Privaten. Denn der Krieg in Afghanistan hält sich nicht an die 8-Stunden-Regel, sondern findet auch nach Feierabend statt. Es ist in seinem Umfeld, in seiner Nachbarschaft allgemein bekannt, welchen Beruf der heute 36-jährige Aryan ausübt. Und so dauert es nicht lange, genauer gesagt bis 2011, dass er den ersten Drohbrief erhält. Er zeigt ihn seinen Vorgesetzten. Der Vorfall wird notiert, doch nichts passiert. Dass Mitarbeiter internationaler Streitkräfte solche Briefe erhalten, ist bereits auch zu dieser Zeit keine Seltenheit. Seinen Job, für den er 1000 US-Dollar im Monat erhält, möchte er nicht aufgeben. Doch im Jahr 2015 wird ihm alles zu viel – die Belastung, die Gefahr die Drohungen. Er verusucht, in die Türkei auszuwandern. Doch die Kosten sind viel höher als erwartet, und am Ende bleibt er doch in Afghanistan.
Als die Bundeswehr ihre Ortskräfte sechs Jahre später, 2021, zu evakuieren beginnt, ist sich Aryan zuerst sicher, dass er dabei sein würde. Doch niemand meldet sich bei ihm, also beschließt er, selber nachzuhaken. Zuerst sagt man ihm beim Verteidigungsministerium, er müsse sich gedulden. „Wie lange?”, möchte er wissen, „noch eine Weile”, sagen sie ihm. Er schreibt über zehn Mails an die Bundeswehr, wo man ihm sagt, er sei nicht im System vermerkt. Offiziell, so sagt der Computer, war er nie angestellt. Dabei hat Aryan alle notwendigen Belege, allen voran ein Arbeitsvertrag, den wir einsehen können.
Sein Fall ist wirklich seltsam. Aryan erfüllt alle, seien es noch so willkürliche rechtliche Rahmenbedingungen für ein Recht auf Evakuierung durch die Bundesregierung. Sein Job, der teilweise an vorderster Front des brutalen und langwierigen Krieges stattfand, hat er stets gut gemacht, das belegen Zertifikate der Bundeswehr, in dem ihm für seinen Dienst gedankt wird. Ob er wirklich nicht auf der Liste steht, ob er einfach vergessen wurde oder durch das Raster gefallen ist, weiß er nicht. Eventuell, sinniert er, gibt es einen anderen Grund, aber ihm fällt keiner ein. Ein ehemaliger Kollege, der wegen eines Drogendelikts auf der schwarzen Liste des Camps stand und dessen Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt wurde. Jener Kollege sei nun in Deutschland, erzählt er. Er selbst lebt alleine mit seiner Mutter, und verbringt die Tage mit Mails, Anrufen und warten, wie so viele seiner Kollegen. Vor die Tür gehen kann er nicht, denn die Taliban kennen ihn. Für sie ist er ein Abtrünniger, ein Feind, ein Verräter. „Ich muss hier raus”, sagt er uns, „ansonsten bin ich tot.”