13. März 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Es gibt keine Metapher, die seit Beginn der Corona-Pandemie häufiger bemüht wurde als das geflügelte Wort vom „Brennglas“. Die Pandemie wirke wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände. Mit dem Brennglas ließen sich auf einmal Probleme erkennen, die offenbar schon länger existieren. Pflegenotstand, Armut, Bildungsmisere. Sogar Ralph Brinkhaus, Unions-Fraktionschef im Bundestag, stellte mahnend fest „Wir müssen in Deutschland sehr schnell und sehr viel verändern. Die Corona-Krise hat das wie unter einem Brennglas gezeigt“. Einige seiner Fraktionskollegen haben dann tatsächlich auch sehr schnell und sehr viel verändert und zwar an ihrem Kontostand. Das Witzige an diesem Sprachbild ist jedenfalls: Hält man die Konvexlinse in einem bestimmten Winkel in das Sonnenlicht, erhöht sich die Temperatur im Brennpunkt so stark, dass das Beobachtungsobjekt unter Umständen in Flammen geraten kann – Ein Phänomen, das jedes Kind kennt. Insofern passt diese Metapher sehr gut zur gegenwärtigen Situation in Deutschland. Einige wollen sich gesellschaftliche Probleme näher anschauen, andere wollen die Welt brennen sehen.
Die dritte Welle ist nun zweifelsohne auch in Deutschland angekommen, nur diesmal hat sie auch noch Mutationen im Gepäck. Es ist, als wären sie buchstäblich eingeladen worden. Das RKI gab gestern eine extrem düstere Prognose von Inzidenzen jenseits der 300 rund um Ostern ab. Ab Kalenderwoche 14 würden die Fallzahlen sogar über dem Niveau von Weihnachten liegen. Zur Erinnerungen: Allein im Dezember 2020 starben in Deutschland 20.000 Menschen an SARS-CoV-2, auch, weil die „Krisen-Politik“ weder im Oktober noch im November angemessen reagierte, sondern erst, als es zu spät war. Die Weihnachtskonjunktur war wichtiger. Im selben Zeitraum begannen in Großbritannien, Irland und Portugal bereits die maßgeblich von der britischen Mutante B1.1.7 getragenen dritten Wellen, mit zum Teil exorbitanten Anstiegen und verheerenden Todeszahlen. Insbesondere Portugal galt lange als Musterland im Umgang mit der Pandemie, aber die Mutationswelle erwischte das vom Tourismus abhängige Land schwer. Die Katastrophe nahm ihren Lauf mit der Öffnung der Schulen. Nun sind sie auch hierzulande auch wieder auf – Und in vielen Regionen wegen zu vieler Infektionsfälle auch schon wieder geschlossen.
Vor ein paar Tagen lieferten sich Sascha Lobo und der besagte Brennglas-Gucker Brinkhaus einen vielsagenden Schlagabtausch bei Markus Lanz. Lobo erinnerte an die vielen Toten, die dem Virus bisher zum Opfer gefallen sind, und sprach von „Staatsversagen“, woraufhin sich Brinkhaus lautstark echauffierte und Lobo mit der Behauptung, dieser sei nur als Provokateur eingeladen worden, als Gesprächspartner degradierte. Gleichzeitig appellierte er daran, doch bitte mehr „Sachlichkeit“ walten zu lassen. So sind sie, die Konservativen. Gibt man ihrer verheerenden, tödlichen Pannen-Politik den richtigen Begriff „Staatsversagen“, sind sie empört, regt man sich völlig zu Recht über die unsäglichen Schweinereien korrupter Unions-Politiker auf, solle man das bitteschön „nicht für den Wahlkampf missbrauchen“ (Söder). Mehr Sachlichkeit bitte.
Ganz sachlich ausgedrückt ist die Corona-Politik in Deutschland eine Mischung aus planlosem, inkonsistentem Rumgewurschtel und tödlicher Interessenpolitik, wobei nicht das Interesse, möglichst viele Menschen vor einer Infektion mit dem Virus zu schützen, im Vordergrund steht, sondern knallharte ökonomische Interessen. Sehr sachlich muss man dabei attestieren, dass die Krisenmanager in der ersten Reihe, allen voran Jens Spahn, einen derart katastrophalen Job machen, dass ihr Versagen den Tod vieler Menschen zur Folge hat. Ginge es wirklich sachlich zur Sache, dann würde die Krisen-Politik nicht andauernd Nebelkerzen („Es geht uns ums Kindeswohl!“) in die Luft werfen und Beruhigungspillen („Die Menschen brauchen Perspektiven“) verteilen, sondern Probleme effektiv und radikal lösen.
Perspektiven, atmende Öffnungsmatrix, Stufenplan – Leider ist die herrschende Politik nur dann erfinderisch, wenn es um Framing und fancy Begriffe geht, die die eigene Fantasie- und Planlosigkeit verschleiern sollen. Da wird das Durchseuchen von Kindern mit dem Virus und seinen Mutanten, die wie die UK-Variante um 64% tödlicher sind, mal eben als „Kindeswohl“ gelabelt, als wäre es förderlich für das nachhaltige Wohl von Kindern, sich entweder selbst zu infizieren, zum Teil schwerste Langzeitschäden davonzutragen oder beispielsweise die wegen des Versagens von Spahn und Co. noch nicht geimpften Großeltern anzustecken, die daraufhin sterben könnten. Mehr Trauerfeiern und schmerzhafte Verluste für das Kindeswohl, ganz tolle Idee. Das sind doch schöne Perspektiven, genauso wie die Perspektive für den Einzelhandel, mit großem Vorbereitungs- und Planungsaufwand drei Wochen aufzumachen, um dann notwendigerweise wieder zu schließen, oder für die Kultur, die froh sein kann, im Stufenplan überhaupt noch vorzukommen. Schon im Moment des Beschwörens einer „Perspektive“ erlischt sie, weil diese Krisen-Politik eine einzige Augenwischerei ist.
Ginge es wirklich um gute Perspektiven für den Großteil der Bevölkerung, dann wären schon längst kostenlose Schnelltests da, dann wären die Impflizenzen längst freigegeben und der Patentzwang abgeschafft worden, dann würde das Krisenmanagement weiter auf die Wissenschaft hören und nicht auf Scharlatane wie das Gegenteil-Orakel Streeck. Diese Wissenschaft warnt nämlich in immer eindringlicheren Worten („Was uns gerade präsentiert wird, ist eine intellektuelle Beleidigung an alle und keine Perspektive“, Melanie Brinkmann, Virologin TU Braunschweig) vor diesem Weg der planlosen Öffnung in den Beginn der dritten Welle hinein und das aus zwei recht einfach zu verstehenden Gründen:
Stattdessen bekommen wir die als „Perspektive“ verkaufte Horrorvorstellung eines düsteren Frühjahrs mit vielen, vielen Toten, mit großem menschlichen Leid, mit einer noch weiter zunehmenden Erschöpfung und Zermürbung weiter Teile der Gesellschaft, mit einer Zunahme von Existenz- und Zukunftsängsten und ganz realen Pleitewellen. Das wird der Preis sein für eine Politik, die kapituliert hat und in der die politischen Forderungen von Coronaleugnern faktisch längst erfüllt werden.
Tatsächlich ist das dann auch, neben dem eigentlichen Problem der Pandemie als solche, die besorgniserregendste Entwicklung. Es gibt gerade einen offensichtlichen Diskurszusammenschluss zweier politischer Lager: Die extrem rechte Coronaleugner-Bewegung auf der einen Seite, vor deren Gewalt gestern erst das Impfzentrum in Dresden beschützt werden musste, und die marktradikal-neoliberalen Kräfte auf der anderen Seite, die vor allem systemische Interessen und die Interessen der Exportwirtschaft verteidigen. Öffnen, lockern, „Freiheit“. Hier formiert sich etwas. Wenn alles schlecht läuft, entsteht hier ein neuer rechter Block, bei dem die Kapitalseite in diesem neuen Gemisch aus Verschwörungsgläubigen und Schlägernazis die zwar ungeliebte, aber letztlich doch gern gewählte Bündnispartnerschaft – zumindest auf Diskursebene – zur Verteidigung des kapitalistischen Status Quo sieht. Ein Block des Egoismus, des kalten Verteidigens von Privilegien und der rücksichtslosen Vorteilsnahme. Dieser Entwicklung kann nur Einhalt geboten werden, wenn sich auch endlich ein Block der Solidarität formiert, der sich den wirklich wichtigen Fragen zuwendet, statt sich fast schon obsessiv an neuen Feindbildkonstruktionen wie „Identitätspolitik“ und Gendersternchen abzuarbeiten: Wie entziehen wir das Gesundheitssystem dem Markt, also ökonomischen Profitinteressen, sodass wir ein gutes System für alle bauen, das auch pandemiefest ist, wie bekommen wir mehr Auszubildende in die Pflege, um die zukünftigen Bedarfe zu stemmen, wie kommen wir endlich bei der Digitalisierung in den Schulen und Ämtern voran, wie können wir lebenswichtige Bereiche wie die Kultur krisenfest machen und ihr Überleben jenseits von Verwertungslogiken absichern? Es lohnt sich, das Brennglas nicht nur auszupacken, wenn gerade mal wieder Krise ist, sondern sämtliche Bereiche der Gesellschaft zukunftsfest zu machen. Denn die nächste Krise klopft bereits an die Pforte und ruft „Bitte wählt die CDU – mir zu Liebe.“
Foto: Robert Fietzke