Der Fahrer

Der Fahrer

21. Januar 2022

Die Zurückgelassenen

Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.

Teil 11: Der Fahrer

Wenn Nabi* (Name geändert) spricht, sieht man ihm die Sorgen ins Gesicht geschrieben. Wir sitzen in einem verwahrlosten Hof, das dazugehörige Haus mietet die siebenköpfige Familie, weil sie nicht mehr in ihr Dorf etwas außerhalb von Mazar-e Scharif, im Norden Afghanistans, zurückkehren können. Um zu überleben, verkaufen sie ihre Habseligkeiten. „Die Taliban sieht uns nicht als Menschen an“, klagt eine der Töchter Nabis. Die andere spielt mit Selbstmordgedanken. Die kalte Wintersonne scheint in diesen Tagen auf viele Menschen herab, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden. Die Geschichte ist immer eine ähnliche. 20 Jahre lang war die deutsche Bundeswehr in Afghanistan stationiert, 20 Jahre lang hat die Bundesrepublik Milliarden in zivile und militärische Projekte fließen lassen. Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende Menschen haben ihr Leben darauf aufgebaut.

Sie haben in diesen Bereichen, Behörden und Organisationen gearbeitet, ihr Geld verdient, ihre Kinder ernährt und zur Schule geschickt, ihre Hoffnungen darauf aufgebaut. Auf einmal, so beschlossen es Donald Trump und die Taliban im Februar 2020, sollte der Krieg vorbei sein. Die durch den Westen aufgebaute Afghanische Nationale Armee floh vor den Islamisten, die das Land wie ein Lauffeuer überrannten. Die islamische Republik Afghanistan kollabierte und wurde zum islamischen „Emirat“.

Dass die angebliche Demokratisierung Afghanistans durch den Westen wohl nur auf Schall, Rauch und leeren Versprechen gebaut wurde, hat die Familie, die wir besuchen, erst danach gemerkt. Denn der Vater, Nabi, 48 Jahre alt, hat „nur“ bis 2013 für „die Deutschen“ gearbeitet. 2008 begann er als Bauarbeiter für den deutschen Entwicklungsdienst, er renovierte unter anderem die Flugbahn des neuen Flughafens in Mazar, eins der größten und prestigereichsten Projekte Deutschlands im Norden Afghanistans, später arbeitete dann als Fahrer. Die Beziehung zu seinem Chef, für den er zum persönlichen Chauffeur aufstieg, sei extrem persönlich gewesen. „Er war öfters hier bei uns, sogar mit seiner Ehefrau, sie saßen auf unserem Boden, wir haben vom selben Teller gegessen“, erzählt er von dieser Zeit. Umso größer sei die Enttäuschung, noch in Afghanistan zu sein, wären andere bereits ausgeflogen wurden. Mit dem ehemaligen Chef sei er noch in Kontakt. Dieser drücke ihm zwar sein Mitgefühl aus, könne ihm jedoch nicht weiter helfen, so Nabi.

Das Problem der Familie: Den Taliban ist selbstverständlich egal, wer vor 2013 oder danach für die Bundeswehr oder Bundesrepublik gearbeitet hat. Die Regel ist nur dazu da, dass die Bundesrepublik ihrer Verantwortung durch die eigene Rechtssprechung quasi legal aufweichen kann. In den Augen der Taliban sind sie alle Abtrünnige und somit in höchster Gefahr. Als die Taliban die Macht Anfang August über ihre Heimat übernahmen, floh die Familie nach Kabul. Dort versuchten sie vergeblich, in den Flughafen und auf eins der Flugzeuge zu gelangen, die gen Westen flogen. Nur knapp überleben sie den verheerenden Selbstmordanschlag vom 26. August. Der Vater erinnert sich, wie er von der Druckwelle zurückgeworfen wurde und im Blut der anderen wieder aufwachte. Über die reglosen Körper der über 180 Verstorbenen entkommen sie dem Ort des Grauens und kehren nie wieder zurück. Zwei Tage später endet die Evakuierung, und die Familie reist zurück in den Norden des Landes.

„Wir sind froh, das überlebt zu haben“, erzählt der Vater nach einer kurzen Redepause. Bislang haben sie nicht nur einen grausigen Selbstmordanschlag, sondern auch noch eine gescheiterte Flucht und den Wohnortswechsel überlebt. Doch die Frage bleibt, wie lange das gut gehen kann. Sieben Personen, die sich selber in einem gemieteten Haus gefangen halten, weil sie auf der Straße jederzeit umkommen könnten. Und das, weil Deutschland mit einem willkürlichen Datum jenen Schutz verweigert, die ihre „Verteidigung der Freiheit am Hindukusch“ überhaupt erst ermöglicht hatten, wie es am 11. März 2004 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck gesagt hatte.

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