8. August 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Vor ein paar Tagen geisterte ein bemerkenswerter Satz von Armin Laschet durch das Netz, der vielleicht mehr über sein Politikverständnis verrät als jeder andere von ihm: „Der Glaube an Gott ist prägend für mein Verständnis der Welt. Wenn man daran glaubt, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht, macht man auch Politik anders als zum Beispiel ein Kommunist, der bis zum Lebensende dringend mit allen Mitteln das Paradies auf Erden will.“
Das Paradies auf Erden noch in diesem Leben, was für eine fürchterliche Horrorvorstellung! Dann doch lieber Hunger, Armut, Krieg, Flucht, Vertreibung, Diskriminierung, Mord, Folter, Diktaturen, Epidemien, Krisen, Artensterben und Klimanotstand im Diesseits, denn: „irgendwie“ geht es nach dem Tod schon weiter. Amen.
Dieser Satz wäre eine gute Gelegenheit, um über Armin Laschets Glauben, die Rolle, die er in seinem politischen Denken und Wirken einnimmt sowie über seine rechte Hand Nathanael Liminski und dessen Verbindungen zu Opus Dei zu sprechen, aber dazu wurde bereits Vieles geschrieben. Ich möchte Laschets philosophischen Erguss lieber produktiv nutzen und über das Paradies sprechen, oder um genauer zu sein: Das Paradies auf Erden. Beschreibungen der Dystopie, die uns in dieser hoch politischen Zeit alltäglich belasten, gibt es schließlich genug.
Community Garden Eden
Das Paradies auf Erden, das Paradies noch in diesem Leben, wäre nicht zu verwechseln mit den bekannten religiösen Vorstellungen vom Paradies oder vom „Garten Eden“. Es wäre auch kein quasi-esoterischer Ort, an dem die Menschen den Göttern gleich Ambrosia trinkend Ringelreihen tanzen. Vielmehr wäre dieses Paradies ein realistischer Ort, an dem sich die Menschen der real existierenden Bedingungen überaus bewusst sind, um auf Grundlage dieses Bewusstseins eine neue Welt zu bauen, die besser ist als die alte, die der Mensch an den Rand der Zerstörung gemarktwirtschaftet hat. In diesem realistischen Paradies gäben sich die Menschen keinen mystischen, überweltlichen Vorstellungen eines göttlichen Gartens hin, sondern schlössen sich kollektiv und basisdemokratisch zusammen, um auf trockeneren Böden, in abgestorbenen Wäldern und mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse einen neuen, irdischen „Garten Eden“ aufzubauen. Dieser bietet ihnen alles, was sie zum Leben brauchen, wenn sie ihn selbst leben lassen. Populationen vom Aussterben bedrohter Tierarten würden in diesem Wald ebenfalls ihren Platz finden und sich erholen.
Brot, Frieden und Gerechtigkeit
In diesem Paradies müsste keine Menschenseele mehr Hunger leiden, weil trotz veränderter klimatischer und somit auch landwirtschaftlicher Bedingungen genug für alle da wäre, denn die Menschen haben endlich verstanden, dass sie die Güter der Welt sorgsam behandeln und gerecht aufteilen müssen. Niemand käme mehr auf die Idee, an einem System festzuhalten, in dem eine Gruppe von Menschen jährlich die Güter von fünf Welten verbraucht, während eine andere Gruppe jeden Tag ums nackte Überleben kämpft.
Dieses Paradies wäre ein Ort, an dem Kriege aufgehört haben, zu existieren, weil die Menschen endlich andere Formen der Konfliktlösung gefunden haben. Niemand müsste mehr vor Kugeln, Giftgas oder Bomben fliehen. Alle Atomwaffen wären vernichtet. Ein weltweiter Feiertag würde an den Ausbruch des Ersten Weltfriedens erinnern und jeder neuerliche Versuch, einen Konflikt mit kriegerischen Mitteln zu lösen – so realistisch müssen wir bleiben, dass es das auch im Paradies gäbe – würde sofort geächtet und im Keim erstickt.
Dieses Paradies würde sich auch dadurch auszeichnen, dass Menschen, für die Krieg eben nicht nur die ultima ratio, sondern ein legitimes Werkzeug zur Durchsetzung der eigenen Interessen bleibt, gar nicht erst in die Gelegenheit kämen, einen anzuzetteln. Derlei Charaktere, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden die Seiten der Menschheitsgeschichte mit Blut tränkten, würden als Relikt einer zum Glück überwundenen Zeit ihr Leben fernab aller Chancen zur Erlangung von Machtmitteln fristen. Bei Wahlen wären sie chancenlos und im neuen, demokratischen Internet von unten würden sie von Ignoranz gestraft. Ähnliche Persönlichkeiten, die auf eine andere Weise Krieg führten, nämlich gegen die Natur, weil sie zum Beispiel lieber den Amazonas abfackelten statt diese „Grüne Lunge der Welt“ zu bewahren, würden aus dem Amt gejagt, um sich vor ordentlichen Gerichten für ihre Verbrechen zu verantworten.
Menschenrechts-Supremacy
Im Paradies auf Erden würde kein Mensch mehr auf einem überfüllten Holzboot im Meer ertrinken, weil niemand mehr dazu gezwungen wäre, vor einem unerträglichen Zustand zu fliehen. Gleichzeitig herrschte vollständige Bewegungsfreiheit auf der Welt. Ein Kommen und Gehen, ein Bleiben und Leben. „Ich war zuerst da, also darfst du hier nicht sein“ wäre ein schon lange nicht mehr gehörter Satz. Menschen, die die vielen Kämpfe für Gleichstellung und gegen Diskriminierung als „Identitätspolitik“ verspotteten, würden höchstens müde belächelt, aber ansonsten ignoriert. Die einzige Supremacy, die noch existierte, wäre eine Supremacy der unteilbaren Menschenrechte und der Menschenwürde. Parteien und Politikerinnen, die Rassismus, Antisemitismus, Misogynie und jede andere Form der Diskriminierung wieder salonfähig machen wollten, würden sogleich in ihre Schranken gewiesen – by all means necessary.
Nie wieder Existenzangst
Wahrhaft paradiesisch ginge es im Paradies auch deswegen zur Sache, weil sich niemand mehr um seine Existenz sorgen müsste. Niemand müsste sich Sorgen um ein gutes und bezahlbares Dach über dem Kopf machen. Kapitalträchtige Spekulationen an den Finanzmärkten mit Wohnraum wären höchstens einen mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommenen Eintrag in den Geschichtsbüchern wert. Es gäbe gute, öffentliche Krankenhäuser, in denen es erstens genügend Pflegerinnen und Ärztinnen gäbe, sodass niemand Überstunden machen müsste, und zweitens würden alle einen guten und gerechten Lohn für ihre wichtige Arbeit bekommen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene, ganz gleich, in welcher Form und in welchem Lebensalter sie lernen, könnten sich darauf verlassen, dass es genügend Lehrkräfte gibt, damit keine Unterrichtsstunde ausfallen muss. Bildung wäre prinzipiell eine zwanglosere Angelegenheit, bei der viel zu frühes Aufstehen, viel zu lange Anreisewege und Leistungsdruck als zentrales Prinzip der Vergangenheit angehörten. Während einer Epidemie oder Pandemie, die im Paradies natürlich weitaus seltener aufträte, aber auch hier immer mal wieder vorkommen kann, wären Schülerinnen mit die ersten, die in den Genuss von effektiven Schutzmaßnahmen kämen. Insgesamt würde die Zeit von Schule, Ausbildung und Studium deutlich mehr Spaß machen, weil da vorne, in der Zukunft, etwas liegt, worauf es sich hinzuwirken lohnt.
Generell würden die Menschen im diesseitigen Paradies weniger und anders arbeiten. Niemand müsste mehr um fünf Uhr morgens, wenn der menschliche Körper sich noch nach Ruhe sehnt, aufstehen, um für die Mehrung des Reichtums irgendeines Chefs zu arbeiten. Die Produktivität wäre so groß, dass die Güter, die die Gesellschaft benötigt, mit deutlich weniger Erwerbsarbeit produziert werden könnten. Fabriken würden keine sinnlosen, umweltschädlichen Güter mehr herstellen, die dem alleinigen Zweck dienen, einen Unternehmer reich zu machen, sondern in demokratischer Selbstorganisation wirklich nützliche Sachen – ohne Sollbruchstellen. Profit als alleinige Logik von menschlicher Warenproduktion läge unbeachtet auf dem Scherbenhaufen der alten Welt des Anthropozän.
Der Imperativ des Träumens
Schlottern euch schon die Knie vor Angst vor diesen Horrorvorstellungen? Wenn nicht, dann seid ihr dringend des Kommunismus verdächtig. Dann dürftet ihr euch anhören, ihr wärt ein naiver „Träumer“, predigtet das „Wolkenkuckucksheim“ vom Himmel. Oder man würde euch im Duktus der drögen Bonner Republik direkt auffordern, bei Visionen zum Arzt zu gehen (Helmut Schmidt).
Vielleicht ist es aber auch genau andersherum. Vielleicht ist Armin Laschet derjenige, der sich Fragen gefallen lassen sollte, warum er überhaupt Politik macht, wenn er offenbar nicht den Sinn darin sieht, im Hier und Jetzt dafür zu sorgen, dass es nicht nur „irgendwie“ weitergeht, sondern sicher und gerecht? Vielleicht sind diejenigen, die uns Tag für Tag weismachen wollen, dass unbegrenztes Wachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen möglich und anstrebenswert sei, naive, realitätsfremde Träumer? Oder diejenigen, deren Horizont nicht weitergeht als bis zum Ende einer Parlamentslegislatur, die uns allen eine Gegenwart eingebrockt haben, in der der Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation in unmittelbarer Zukunft zumindest nicht unwahrscheinlich erscheint?
Wenn es stimmt, was die internationale Klimaforschung feststellt, dass nämlich nur noch fünf bis zehn Jahre bleiben, das Ruder noch herumzureißen, dann ist vielleicht die Zeit gekommen, genau das zu tun: Das Ruder herumreißen. Aus dem Konkjunktiv „man müsste mal“ müsste der Imperativ des Träumens werden: „Wir machen das jetzt“. Die Alternative zum Paradies auf Erden ist nämlich die anbrechende Hölle der Klimakatastrophe. Choose your paradise.
Foto: Robert Fietzke