07. Februar 2021
Kolumne von Ruprecht Polenz
Wer ein WARUM zum Leben hat, erträgt fast jedes WIE, hat Friedrich Nitzsche gesagt. Damit sind nicht nur generelle Antworten nach dem Sinn des Lebens gemeint. Es läßt sich viel ertragen, wenn man weiß, warum das so ist.
Vieles haben Virologen, Epidemiologen und die Politik gut erklärt, damit wir den Regeln folgen, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen. Nur beim Impfen wurden von Anfang an falsche Erwartungen geweckt, die nicht einlösbar waren.
Die erhitzte Debatte über ein „Impfdesaster“ und die Suche nach Schuldigen zeigt, dass hier auch ein Kommunikationsdesaster vorliegt.
Die Corona-Pandemie mutet uns allen viel zu. Wir machen uns Sorgen um Eltern und Großeltern, bei denen eine Ansteckung mit dem Virus sogar zum Tod führen könnte. Aber auch Jüngere sind vor einem schweren Krankheitsverlauf nicht sicher. Außerdem wird immer mehr über Nachwirkungen von Covid-Erkrankungen bekannt, die das Leben erheblich beeinträchtigen.
Um uns und andere nicht anzustecken, erdulden wir deshalb seit elf Monaten Eingriffe in unsere Grundrechte, die bis dahin unvorstellbar waren. Unsere Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Wir können nicht treffen, wen wir wollen. Wir müssen Masken tragen. Unsere Kinder bekommen nur Notbetreuung in den Kitas und Notunterricht in den Schulen. Existenzen werden vernichtet, weil Geschäfte und Restaurants geschlossen bleiben müssen. Die wirtschaftlichen Schäden sind riesig. Das Virus zerstört nicht nur die Lunge, sondern es zersetzt auch unsere Gesellschaft, die von zwischenmenschlichen Kontakten lebt.
Wie lange soll das noch gehen im Wechsel von Lockdown und Lockerungen? Unsere Nerven liegen inzwischen blank.
(Erst) wenn wir geimpft sind, sind wir auf der sicheren Seite. Von Anfang an waren deshalb alle Hoffnungen auf Impfstoffe gegen Covid-19 gerichtet. Mitte 2020 zeichnete sich ab, dass es solche Impfstoffe Anfang 2021 geben könnte.
Um unrealistische Erwartungen rechtzeitig zu dämpfen, hätte die Politik immer wieder darauf hinweisen müssen, dass es mit dem Impfen dann nicht von Null auf Hundert losgehen würde. In den ersten Wochen nach der Zulassung stünden nur wenige Impfdosen zur Verfügung. Es würde noch Monate dauern, die Produktion hochzufahren.
Das hätten die meisten verstanden und sich trotz aller Ungeduld darauf eingestellt. Schließlich handelte es sich um völlig neue Produkte, die noch nicht einmal zugelassen worden waren, und nicht um einen Abverkauf von alten Lagerbeständen. Außerdem war klar, dass die weltweite Nachfrage gewaltig sein würde.
Von der Leyen, Merkel, Spahn und die Ministerpräsidenten hätten seit August in jeder Pressekonferenz die Erwartungen auf eine schnelle Lieferung von ausreichend viel Impfstoff dämpfen müssen. Statt dauernd darüber zu sprechen, dass man mit dem Impfen vielleicht noch vor Weihnachten starten könnte, hätten sie immer wieder darauf hinweisen müssen, dass es bis Ostern dauern würde, ehe es ausreichende Produktionskapazitäten geben würde, um die Impfkampagne richtig auf Touren zu bringen.
Alle politischen Botschaften gingen aber in die andere Richtung. Schon vom 15. Dezember an sollten alle 450 Impfzentren in Deutschland einsatzbereit sein. Sie wurden deshalb unter großem Zeitdruck errichtet. Schließlich sollte das Impfen nirgendwo daran scheitern, dass die Impfzentren nicht fertig waren. Stolz und erschöpft posierten Oberbürgermeister und Landräte in ihren Impfzentren, die fristgerecht bis zum 15. Dezember aus dem Boden gestampft worden waren. In keinem Pressebericht darüber fehlte der Hinweis, wieviele hundert oder tausend hier ab sofort jeden Tag geimpft werden könnten – sobald der Impfstoff geliefert würde.
Als Lieferdatum hatte sich der 27. Dezember in unseren Köpfen festgesetzt. Auf diesen Tag war von der Politik immer wieder hingewiesen worden, um die wachsende Ungeduld zu besänftigen. Schließlich wurde in Großbritannien und Israel schon geimpft, während die Europäische Gesundheitsbehörde noch mit dem Zulassungsverfahren beschäftigt war.
Am 27. Dezember ging es dann auch los. Aber die Impfzentren stehen bis heute nahezu leer, weil – vorhersehbar, aber nicht rechtzeitig angekündigt – der Impfstoff fehlte, um im großen Stil zu starten.
Ist das „Impfdesaster“ also vor allem ein Kommunikationsdesaster? Hätte man nicht doch auch jetzt schon viel mehr Impfstoff haben können? Vor allem darauf konzentriert sich jetzt die Kritik.
Es sei ein Fehler gewesen, dass Deutschland die Impfstoff-Beschaffung überhaupt an die EU delegiert habe. Schließlich sei Biontech eine deutsche Firma. Der deutsche Steuerzahler habe die Entwicklung des Impfstoffs mit vielen Millionen gefördert. Dann müßte der Impfstoff vor allem und zuerst auch der deutschen Bevölkerung zur Verfügung stehen.
Diese Kritik schwingt auch unterschwellig immer noch mit, wenn Beschaffungsfehler der EU kritisiert werden. Aber Impfnationalismus hätte uns in Europa diskreditiert und isoliert. Trump hatte im Dezember mit einer executive order den Export von Impfstoffen untersagt und sich damit mehr Impfstoff für die USA gesichert. Für Deutschland ist Germany first auch rückblickend keine Option.
Die EU habe zu langsam und zu wenig bestellt. Sie sei zu knauserig bei den Preisverhandlungen gewesen. Die EU hätte – whatever it takes – bei allen aussichtsreichen Herstellern gleichzeitig ihren ganzen Bedarf bestellen müssen, verbunden mit einer Abnahmegarantie auch für den Fall, dass es am Ende für einige keine Zulassung gibt. Das wäre immer noch billiger gewesen, als die Kosten eines erneuten Lockdown. Durch diese Abnahmegarantien hätten alle sofort auch in Produktionskapazitäten investiert.
Aber hätte ein Schneller-bei-vielen-mehr-Bestellt tatsächlich dazu geführt, dass unsere Impfzentren jetzt im Vollbetrieb impfen könnten, wie uns Ökonomen theoretisch durchaus plausibel erklären?
Die Frage darf man nicht nur theoretisch erörtern, denn man kann direkt bei den Herstellern nachfragen. Lange haben die Medien hier leider überhaupt nicht recherchiert. Sie haben stattdessen einer immer erregteren Debatte breiten Raum gegeben, statt deren Prämissen kritisch zu hinterfragen.
Die Tagesschau hat das vor wenigen Tagen endlich getan, mit einem ernüchternden Ergebnis: „De facto hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn die EU früher mehr bestellt hätte“, so der Biontech-Chef Sahin im Interview.
„Allein der Aufbau einer neuen Produktionsstätte nur für das Abfüllen des Imfstoffs dauert 6 Monate“, erklärte er zur Begründung. Außerdem ist der Impfstoff nur sechs Monate haltbar. Auch das setzt einer Vorproduktion vor Impfbeginn Grenzen.
Es gibt nicht „Dutzende von Unternehmen, die bereit sind“, Impfstoffe herzustellen und „diese Pandemie zu beenden“, schreibt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Derek Lowe.
Er hat recherchiert und schildert detailliert, wie kompliziert und arbeitsteilig die Produktion von Impfstoffen ist. Nur die wenigsten beherrschten das. „Es sind die gleichen wenigen großen Spieler, von denen Sie bereits gehört haben, und sie sitzen auch nicht herum und schauen zu. Anders zu behaupten ist eine Fantasie und wir sind mit den Fakten besser dran.“ Wer den Artikel liest, wird jedenfalls Zweifel daran haben, ob die allgemeinen ökonomischen Theorien in diesem speziellen Fall so gewirkt hätten, wie versprochen.
Das Kommunikationsdesaster hat den Blick auf das Impfwunder verstellt. An den mRNA-Impfstoffen wird seit 25 Jahren geforscht. Zum Glück waren die allermeisten Probleme kurz vor Beginn der Pandemie gelöst. „Vor fünf Jahren hätten wir nicht innerhalb eines Jahres von der Sequenz zum Impfstoff kommen können. Das „wir“ bedeutet dabei „wir, die Biopharmaindustrie“ als auch „wir, die Menschheit““, so Derek Lowe.
Es ist deshalb eine sehr gute Nachricht, dass bereits für das 2. Quartal die Lieferung von 77 Millionen Impfdosen vertraglich fest vereinbart wurde und für das 3. Quartal 126 Millionen. Auch wenn bis Ende März insgesamt „nur“ 18 Millionen zur Verfügung stehen: es bleibt ein Impfwunder.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP