Antisemitismus als ideologischer Kitt

Antisemitismus als ideologischer Kitt

17. Februar 2022

Von Matthias Meisner

Es war eine sehr klare Botschaft des Theaters in Gera. Vor ein paar Wochen empörten sich Intendant Kay Kuntze und der Kaufmännische Geschäftsführer Volker Arnold über „als ,Spaziergänge‘ maskierte Demonstrationen“, mit denen Versammlungs- und Demonstrationsrecht missbraucht würden. Die Veranstaltungen seien „nicht nur illegal, weil unangemeldet“, sondern würden „von organisierten Gruppen für demokratiezersetzende Ideologien instrumentalisiert“.

Kuntze und Arnold kritisierten, dass ausgerechnet das Theater Gera als Startpunkt „dieser spaltenden Angriffe auf unsere Demokratie“ gewählt werde. Sie berichteten: „Uns erreichen sogar Flugblätter, in denen das Theater mit einem Konzentrationslager verglichen wird, weil entsprechend der Thüringer Eindämmungsverordnung die 2-G-Regel Anwendung findet.“ Auch wenn nicht alles in einen Topf geworfen werden könne, so distanziere sich das Theater doch klar von den „Montags-Spaziergängen“, die „geschichtsvergessen versuchen, an die Demonstrationen der friedlichen Revolution anzuknüpfen oder gar verharmlosende Vergleiche zum Holocaust ziehen“.

In der thüringischen Stadt lässt sich seit bald zwei Jahren beobachten, wie sich alles vermischt, wie Menschen aus der bürgerlichen Mitte gemeinsam mit Neonazis gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die Straße gehen, „Heilpraktiker und Sieg-Heil-Praktiker“, wie es im Deutschlandfunk gerade so schön hieß, in einem Essay von Jean-Pierre Wils über die Corona-Proteste.

Im Mai 2020 holte in Gera der Unternehmer Peter Schmidt den thüringischen FDP-Vorsitzenden und Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich für eine Rede vor Coronaleugner:innen auf die Bühne. Im Hintergrund zogen Neonazis aus dem Umfeld von Reichsbürgern und der rechtsextremen Thügida die Strippen, Schmidt posierte mit ihnen für Fotos auf Facebook. Schmidt schrieb dazu, er sei „geflasht von den Geraern“, die sich „nicht schweigend dem Unrecht beugen“. Eine an der Unterstützung des Aufmarschs beteiligte Rechtsextremistin, Vanessa P., hängte sich damals bei ihrer Teilnahme einen gelben Stern um – Antisemitismus war von Beginn an zentrales Ideologieelement bei den Protesten.

Erschreckend ist es, wenn solche Zusammenhänge trotzdem geleugnet werden. In einer Kolumne im Berliner „Tagesspiegel“ schrieb Harald Martenstein vor ein paar Tagen, der „Judenstern“, wie er mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf Corona-Demos häufig getragen werde, sei „immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten“. Martenstein fügte ein „aber“ hinzu: „Eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden.“

Martenstein wurde für seinen Text heftig kritisiert. In der „Jüdischen Allgemeinen“ kommentierte Ralf Balke, der „Tagesspiegel“-Kolumnist gehöre offensichtlich „genau zu den Personen, die keinen Begriff mehr vom Antisemitismus haben oder haben wollen und im postmodernen Nebel irrlichtern“. Die Shoah sei dann „einfach nur ein Ereignis unter vielen, bei dem irgendwelche Menschen anderen etwas Böses angetan haben, weshalb alles mit allem vergleichbar sein darf und historischer Kontext sowie Fakten lästiges Beiwerk sind“. In der „Süddeutschen Zeitung“ warnte Meredith Haaf vor einer „schleichenden Desensibilisierung für die historische Einmaligkeit des Holocaust“. Unter Hinweis auch auf Martenstein schrieb sie, es sei „Debatte als Sabotageakt“, die Grundsätze des Kampfes gegen Diskriminierung und Antisemitismus infrage zu stellen, „um Likes und Clicks zu sammeln in billigsten Gegenwartskämpfen“.

Martenstein hatte schon in einer Kolumne zuvor eine „faire“ Berichterstattung über die Forderungen der „Querdenker“-Bewegung eingefordert. Man müsse deren Sprecher „selbst zu Wort kommen lassen, im Fernsehen zum Beispiel“. Der Kolumnist bezeichnete es als „schändlich“, die Proteste „für Grundrechte“ pauschal „als rechtsradikal oder staatsfeindliche Hetze oder was auch immer zu delegitimieren“. Gegenrede: Werden „Grundrechte“ nicht nur vorgeschoben, um gegen eine angebliche „Corona-Diktatur“ auf die Straße zu gehen? Wird nicht mit der Forderung nach „fairer“ Berichterstattung suggeriert, dass diese ausbleibt? Wird so nicht das „Lügenpresse“-Narrativ gepflegt? Ja und ja und ja.

Eine problematische Sehnsucht nach falscher Ausgewogenheit breitet sich aus. Stimmen werden laut nicht nur für den Kampf gegen die Pandemie, sondern auch gegen eine angebliche „Plandemie“, immer wieder geschieht das auch in den Medien. Die Geraer Lokalchefin der „Ostthüringer Zeitung“, Sylvia Eigenrauch, verteidigte in ihrem Blatt die „Montagsproteste“. Sie berichtete, dass Geraer, die daran teilnahmen, „das erste Mal in ihrem Leben als Nazis und Faschisten beschimpft wurden“. Die Journalistin appellierte: „Wer glaubt, dass man indem man andere beleidigt, die Gesellschaft eint, liegt falsch“. Das bezog sie ausdrücklich auch auf „die Theatermänner“, die die Demokratie missbraucht sahen, und damit in den Chor derer einstimmten, „die nicht wahrhaben wollen, was Realität ist“.

Zur Realität in Gera gehört auch: So wie zuvor in Grimma vor das Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) und erst am vergangenen Montag in Halberstadt vor das Wohnhaus des dortigen Oberbürgermeisters Daniel Szarata (CDU) waren Mitte Januar Corona-„Spaziergänger“ vor das Wohnhaus des Geraer Oberbürgermeisters Julian Vonarb (parteilos) gezogen. Neonazis immer mittenmang, sie hatten Aktionen gegen den Geraer OB im Netz angekündigt.

Gerd aus Zwickau sagte heute bei einer Rede in #Gera, dass er dabei ist, wenn mit Knüppeln und Mistgabeln Parlamente gestürmt werden. 1/3 pic.twitter.com/IVRmBDfu8j

— Ostthüringer Divan /// (@ostdivan) February 5, 2022

Eigentlich ahnte Vonarb schon vorher, wie bedrohlich die Szene ist. Im Dezember sagte er: „Radikalisierungen sind nicht tolerierbar und wir sind als Gemeinschaft dazu aufgefordert, dagegen vorzugehen.“ Trotzdem lud der Kommunalpolitiker Vonarb nach dem Protest vor seinem Wohnhaus den Unternehmer Peter Schmidt zu einem Talk bei „Facebook live“ auf dem Account der Stadt Gera ein – jenen Schmidt, der Anmelder der Demo im Mai 2020 mit Kemmerich war. Schmidt pries die Corona-Proteste in Gera als „toll“ sowie „notwendig und auch richtig“. Dass in Thüringen laut Landesverordnung nur ortsfeste Versammlungen erlaubt sind, sei „grundgesetzwidrig“, beklagte Schmidt. Die Mobile Beratung Mobit sah in der Begegnung von Vonarb und Schmidt ein „fatales Signal an andere Menschen, die bedroht werden“.

Weiter gehts!

Gestern berichteten wir, dass #Gera|s OB Vonarb mit den Organisatoren der Corona-Demos sprechen will, nachdem diese eine Demo vor seiner Wohnung veranstalteten. Wir halten das für einen Fehler und möchten die Organisatoren vorstellen. 1/19

— Ostthüringer Divan /// (@ostdivan) January 22, 2022

Am Abend vor dem Dialog-Format der Stadt waren Neonazis erneut vor dem Wohnhaus des Oberbürgermeisters aufgetaucht. Sie verballhornten seinen Namen als „Jonas Vornarsch“, grölten „Lass das Volk spazieren“ und „Wir sind das Volk“. Ein Video der Aktion veröffentlichte diesmal der Hallenser Neonazi Sven Liebich auf seinem Youtube-Kanal.

Die extrem rechte Szene dominiert bei vielen der Aufmärsche. Warum wird das regelmäßig übersehen oder verharmlost? Die „Freien Sachsen“, die inzwischen selbst der AfD zu radikal sind, die AfD selbst oder, wie jetzt in Halberstadt, die neonazistische Gruppe „Harzrevolte“ – sie alle mischen einflussreich bei den „Querdenkern“ mit. Und es passt nur zu gut, dass Liebich, ein Propagandist der neonazistischen Szene, in seinem Shop mit gelben Sternen mit der Aufschrift „ungeimpft“ handelt. In der Produktbeschreibung dazu heißt es: „Dieser Stern spielt mitnichten auf den Holocaust an. Sondern auf die Stigmatisierung von Menschengruppen, welche mit Zeichen versehen wurden, um sie auszugrenzen.“ Eine Formulierung ganz ähnlich der von Kolumnist Martenstein im „Tagesspiegel“.

Der „Tagesspiegel“ immerhin nahm die Kolumne von Martenstein schließlich nach einer guten Woche vom Netz. Der Text hätte „so nicht“ erscheinen dürfen, erklärte die Chefredaktion: „Wir verteidigen die Meinungsfreiheit, sind uns aber deren Grenzen bewusst.“ Nicht alles, was rechtlich gesagt werden dürfe, sei dem Ton der Zeitung angemessen. Und: „Wir vermeiden Zynismus. Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation willen und vermeiden Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten.“ Auf eine generelle Kritik an dem Autor verzichtete die Zeitung unter Hinweis auf das vom Blatt angestrebte „breite Meinungsspektrum“.

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