05. September 2023
Kolumne von Michael Bittner
Um die Moral wird es einsam in Deutschland. Keiner kann sie mehr leiden. Der „Moralisierung“ haben derzeit ziemlich viele Leute den Kampf angesagt: Sahra Wagenknecht und Friedrich Merz, Christian Lindner und Björn Höcke, Markus Söder und Frank-Walter Steinmeier. Mächtige, die mahnen, es mit der Moral nicht zu übertreiben? Was ist da los?
Es gibt gute Gründe, der Moral zu misstrauen, das Wort muffig und die Sache zweifelhaft zu finden. Immerhin wird seit Jahrtausenden Moral vor allem im Auftrag der Herrschenden von den Pfaffen gepredigt, die den Untertanen einreden, nur Gehorsam, Demut und Enthaltsamkeit auf Erden öffneten der Seele die Pforte ins Paradies. Gegen diese verlogene Moral wenden sich jene, die für Aufklärung und Emanzipation eintreten. Sie folgen dabei einer eigenen Lehre des Guten, die sie nicht aus heiligen Schriften, sondern aus der Natur oder der Vernunft ableiten. Diese Moral lässt sich auf die einfache, in unterschiedlichsten Kulturen entdeckte Idee zurückführen, alle Menschen sollten einander als gleichwertig behandeln. Aus dieser schlichten Forderung wächst die ganze Philosophie der Menschenrechte.
Es gibt aber auch eine Kritik an der Moral von rechts, die der fortschrittlichen manchmal zum Verwechseln ähnlichsieht. Auch sie attackiert bisweilen die religiöse Moral, aber aus anderem Grund. Den Rechten geht es nie um etwas anderes als die Macht. Sie loben die Moral, wo sie ihnen nützlich ist, und verwerfen sie, wo sie ihnen im Wege steht. Machiavelli ordnete die Moral dem politischen Erfolg unter. Nietzsche verdammte sie als Fessel des Übermenschen. Und der neuerdings wieder oft zitierte deutsche Soziologe und Altnazi Arnold Gehlen geißelte die „Hypermoral“, von der seiner Ansicht nach die Deutschen besessen waren, die aus den Verbrechen des Nationalsozialismus Konsequenzen ziehen wollten, statt sich wieder stramm zur Nation zu bekennen. Alle rechte Kritik an der Moral richtet sich gegen die Idee der Gleichheit, die dem rücksichtslosen Machtstreben eines Einzelnen oder eines einzelnen Volkes hinderlich ist.
Unübersichtlich ist die Lage derzeit, weil einige Leute, die sich selbst als Linke verstehen, in der Debatte um Politik und Moral zu Argumenten greifen, die man sonst gewöhnlich von Rechten hört. Selbst ihr Ton ähnelt der Häme, mit der der faschistische Staatsunrechtler Carl Schmitt einst die Menschlichkeit im Gegensatz von Freund und Feind auflösen wollte. Es sind besonders Weltstrategen, die sich allzu viel mit der Geheimwissenschaft der „Geopolitik“ befasst haben, die auf so abseitige Wege geraten. Sie haben die Konflikte und Kriege der Vergangenheit und Gegenwart studiert und bemerkt, wie oft die Moral in Form von „westlichen Werten“ nur ein Vorwand für imperialistische Aggressionen war. Die berechtigte Kritik an solcher Heuchelei verwandelt sich bei manchem jedoch schleichend ins Einverständnis mit dem Machtspiel der Gewalt, aus der die Politik nun einmal einzig bestehe. Mit der Überlegenheit des Feldherrn verkünden sie: „Es gibt in der Politik keine Werte, es gibt nur Interessen.“ Diese Weltweisheit ist aber leider Unsinn: Was Menschen als ihr Interesse ausmachen, hängt von ihren moralischen Einstellungen ab. Objektive Interessen gibt es nicht. Um Fragen der Moral kommen also nicht einmal diejenigen herum, die glauben, sie längst weit hinter sich gelassen zu haben.
Moral und Politik sind nicht identisch. Es ist nicht möglich, moralische Überzeugungen umstandslos in politisches Handeln zu übersetzen. Denn während die Moral nur die Einsicht in das Gute braucht (die oft schon schwer genug zu erlangen ist), geht es in der Politik auch um das Mach- und Durchsetzbare. Aber ohne den moralischen Impuls, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, gibt es keine linke, ja nicht einmal eine humanistische Politik. Wer sich mit müdem Lächeln von so altmodischen Überzeugungen abwendet, landet unversehens an der Seite der rechten Egoisten, die ihren Nihilismus als Nationalismus ausleben.
Wenn heute Mächtige vor der Moral warnen, geht es ihnen darum, ihren Untertanen das schlechte Gewissen auszureden, das sich unweigerlich einstellt beim Blick an die Grenzzäune, in die Pflegeheime, auf die Spargelfelder und zu anderen Orten der alltäglichen Unmenschlichkeit. Die Moral soll nicht den Interessen der Nation in die Quere kommen, die üblicherweise die Interessen derer sind, die auf den Chefsesseln der Nation sitzen. Aber keine Angst: Dieselben Herrschenden werden wieder Moral trompeten, sobald es darum geht, die eigene Herrschaft zu sichern. Sie werden Verzicht predigen und Fleiß und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und die braven Deutschen, die heute noch über die Hypermoral der Linken lachen, werden wieder gegen die Neider, die Faulen und die Außenseiter eifern wie in der guten alten Zeit.
Foto: Amac Garbe