01. Oktober 2022
Kolumne von Ruprecht Polenz
Machen wir uns nichts vor: Es wird keinen Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar geben. Alle 32 Teams werden antreten. Keine Mannschaft wird aus den Gründen zu Hause bleiben, die von vornherein hätten ausschließen müssen, dass die WM im Dezember 2010 an Katar vergeben wurde. Katar erhielt den Vorzug gegenüber den Bewerbungen aus den USA, Australien, Japan und Südkorea.
Es war Geld, Geld und nochmal Geld, das die FIFA veranlasst hatte, über alles hinwegzusehen: Weltmeisterschaft im Winter, statt im Sommer. Fussball bei 40 Grad in heruntergekühlten Stadien.
Die Lage der Menschenrechte. Im Jahresbericht von amnesty international 2009 hieß es u.a.:
„Hunderten von Menschen wurde ihre Staatsbürgerschaft willkürlich vorenthalten. Frauen waren weiterhin Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Ausländische Arbeitsmigrant:innenen wurden ausgebeutet, missbraucht und genossen keinen ausreichenden rechtlichen Schutz.“
Sieben Stadien mußten für die WM völlig neu in die Wüste gebaut werden. Den Hinweis auf die Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen hätte der Weltfussball zum Anlass nehmen müssen, die Arbeitsbedingungen bei der Errichtung der Stadien genau zu beobachten. um Verstöße gegen die Bestimmungen der internationalen Arbeitsorganisation zu verhindern.
Der Guardian berichtet im Februar 2021, dass 6.500 Arbeitsmigrant:innen seit der WM-Vergabe in Katar gestorben sind. Die meisten von ihnen kamen aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesh und Sri Lanka. Die Gesamtzahl der verstorbenen Arbeitsmigrant:innen dürfte deutlich höher sein, weil die Daten aus den Philippinen oder von Kenia nicht enthalten sind, aus denen viele Arbeiter:innen nach Katar kommen.
Über zwei Millionen Arbeitsmigrant:innen schuften in Katar, das dabei versagt, für angemessene Arbeitsbedingungen zu sorgen. Die Gründe für die außerordentlich hohe Todesrate unter den überwiegend jungen Menschen wurden nie genauer erforscht. Immerhin steht fest, dass 37 Arbeitsmigrant:innen in direktem Zusammenhang mit den Stadionbauten ums Leben gekommen sind.
„Wir Spieler können aus meiner Sicht ohnehin wenig beeinflussen“, sagt Nationalspieler Nico Schlotterbeck. „Das ist in erster Linie eine Sache der Funktionäre und der Politik. Wir Sportler haben die WM nicht nach Katar vergeben.“ Damit hat er Recht.
Die dänische Mannschaft will in schwarzen Trikots spielen, um an die toten Arbeitsmigrant:innen zu erinnern und gegen die Menschenrechtsverletzungen im Land zu protestieren.
Die deutsche Mannschaft will ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Vielfalt setzen. Deshalb soll Manuel Neuer eine spezielle Kapitänsbinde mit dem Symbol der Kampagne „One Love“ tragen. Das Herz darin ist zwar farbenreich gefüllt, aber nicht in den Regenbogenfarben der Pride-Flagge.
Viele hätten sich ein deutlicheres Zeichen gegen die Verfolgung Homosexueller gewünscht.
Solche symbolischen Aktionen bleiben ein Feigenblatt für die FIFA, solange sie sich nicht auch mit dem engagiert, was zur WM-Vergabe nach Katar geführt hat: mit Geld.
Die Weltmeisterschaft kostet nach offiziellen Angaben 50 Milliarden Dollar. Vorsichtige Schätzungen gehen heute davon aus, dass die WM-Projekte aber rund 150 Milliarden Dollar verschlungen haben. In jedem Fall ist sie die bisher teuerste Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten.
Amnesty fordert jetzt von der FIFA Entschädigungszahlungen von 440 Mio. US-Dollar für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen in Katar und deren Angehörige. Angesichts der riesigen Sponsoren- und Fernseheinnahmen der FIFA sicher nicht zu viel. In einer online-Aktion können Sie den Appell an DFP-Präsident Neuendorf unterstützen, auf die FIFA entsprechend Druck auszuüben.
Statt der FIFA nur einen Brief zu schreiben, könnte der DFB mit gutem Beispiel vorangehen und Hinterbliebene von verstorbenen Arbeitsmigrant:innen ausfindig machen und entschädigen. Wenn die Angehörigen damit einverstanden wären, könnte der DFB die Geschichte der Toten erzählen und ihnen so ein Gesicht geben. Gesichter, die zu dieser Weltmeisterschaft gehören und nicht durch Torjubel in Vergessenheit geraten sollten.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP